Dank der riesigen Überreste eines einst mächtigen Baumes kam Huma abrupt zum Halten. Er rieb sich den Hinterkopf, der einen Teil des Sturzes aufgefangen hatte, und schaute auf.
Es gab keinen Pfad mehr. Die Bäume des Hains beherrschten das Gebiet. Hohe, alte Büsche wucherten im Raum zwischen den Bäumen. Schatten füllten den Rest. Tiefe, dunkle Schatten. Huma schloß die Augen und öffnete sie wieder, wobei er vermied, seinen Blick auf die Schatten zu richten. Ein Schauer überlief ihn. Er erstarrte. Was hatte er gesehen? Es entzog sich jeder Beschreibung, die er geben konnte. Er wußte nur, daß es irgendwo da draußen war und darauf wartete, daß er sich ihm unvorsichtig zuwandte.
»Magus! Kaz!« Die Namen hallten als Echo zu ihm zurück. Ein stilles, spöttisches Lachen schien von überall her zu kommen.
»Huuuumaaa.«
Beim Klang der Stimme griff Huma nach seinem Breitschwert und entdeckte, daß die Waffe fort war. Er erinnerte sich, daß er das Schwert in der Hand gehabt hatte. Doch er fand keine Spur von der Klinge, als er den Boden absuchte.
Etwas Großes, Mißgestaltetes brach aus den anderen Schatten hervor und kreuzte kurz sein Blickfeld. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als der Spötter wieder lachte. Huma zog einen Dolch in der Hoffnung, mit dem Stahl Eindruck zu machen.
Seine Sicht war versperrt, als sich etwas genau vor ihm aufbaute. Er stieß fest mit dem Dolch zu – und traf auf Erde und Matsch. Seine Hand versank im Schlamm, und er verlor seinen kleinen Dolch.
Mit großen Augen starrte er in die eisblauen, kristallinen Augen des Elementars.
Huma bekämpfte sein Verlangen, das seltsame Wesen zu umarmen. Der Elementar blickte auf ihn herab und sprach mit derselben rasselnden Stimme, die er benutzt hatte, um Magus zu antworten.
»Folge.« Welch wunderbares Wort für den Ritter in diesem Moment! Plötzlich war glücklicherweise auch das Schwert wieder in seiner Hand.
Die beiden Kristalle verschwanden in die Tiefen des Erdhaufens. Zuerst bewegte der lebende Hügel sich nicht, und der Ritter dachte, das Wesen sei an Ort und Stelle festgewachsen. Huma steckte sein Schwert weg und lehnte sich gegen die Rückseite der Erdkruste des Elementars. Er hatte beschlossen, ihn aus dieser Klemme zu befreien. Als seine Hände jedoch den Hügel berührten, begann die Erde unter seinen Fingern sich unglaublich aufzuheizen, so daß Huma sie schnell wegzog. Zwei leuchtende Objekte tauchten aus dem Hügel auf.
Mit den Kristallaugen am rechten Platz wiederholte der Elementar seine vorherige Botschaft. »Folge.«
Huma sprang aus dem Weg, als das Ding sich vorwärts wälzte. Anstatt sich umzudrehen wie ein Mensch, verlagerte der Elementar einfach sein Gesicht in die Richtung, in die er sich gerade fortbewegen wollte. Das war zumindest mal beunruhigend, und Huma, der immer noch verwundert zuschaute, ignorierte erneut die nochmalige Aufforderung des Erddieners. Der Hügel wiederholte sie nicht. Unvermittelt floß er einen kleinen Abhang hoch und verschwand.
Huma wollte zunächst instinktiv sein Schwert zücken. Dann aber biß er die Zähne zusammen und stand nach vier langen Sätzen vor einem laut fluchenden Minotaurus und einem besorgten Zauberer.
»Huma!« Kaz zerquetschte ihn geradezu mit seiner ungestümen Umarmung.
Magus lächelte erleichtert. »Als du vom Pfad abgekommen bist, wollte dein Kumpel dir unbedingt hinterher stürmen. Ich konnte ihm gerade noch klarmachen, daß es ziemlich dumm wäre, wenn ihr beide da draußen herumirrt.«
Der Minotaurus ließ Huma herunter und ging auf den Zauberer los. »Du wolltest nicht hinterher! Jemand mußte schließlich gehen!«
»Es ist ja auch jemand gegangen.« Magus strich seine aristokratischen Locken zurück. »Ich kann den Hain zwar passieren, aber ich schicke doch erheblich lieber den Elementar los, der nichts zu befürchten hat, als daß ich aus reiner Höflichkeit selbst das Risiko auf mich nehme.«
»Du bist ein Feigling!«
»Ich denke praktisch.« Magus wandte sich an seinen alten Freund. »Wenn der Elementar dich nicht gefunden hätte, wäre ich dir gefolgt, das darfst du mir glauben.«
Daß Huma die Erklärung des Magiers akzeptierte, ließ Kaz verächtlich schnauben. Magus beachtete es nicht weiter. Nach einem Klopfen auf die augenblickliche Rückseite des Elementars zog die Gruppe wieder los.
Obwohl keine neuen Schwierigkeiten mehr auftauchten, hielt Huma seine Augen unablässig nervös auf den Pfad gerichtet. Schließlich kamen sie ans Licht. Strahlendes Licht. Es war, als wäre die ewige Wolkendecke endlich den goldenen Sonnenstrahlen gewichen. Selbst auf Kaz’ Gesicht zeichnete sich ein breites, von Herzen kommendes Lächeln ab. Als Magus sich zu ihnen umdrehte, grinste auch er über beide Ohren. Er hob den Stab in die Höhe.
»Willkommen bei mir zu Haus.«
Sie schauten auf ein weites, goldenes Feld. Man hätte leicht glauben können, daß irgendwo da draußen Elfen tanzten. Schmetterlinge und kleine Vögel flogen hin und her, während der helle, reife Weizen ihnen träge nachwinkte. Kleine Pelztierchen hüpften zwischen den paar Bäumen herum, die am Waldrand standen. Sollte es auf Krynn noch ein Paradies geben, so mußte es dieser Ort sein.
In der Mitte dieses wundersamen Feldes stand die Zitadelle von Magus, ein Turm, der wie das ihn umgebende Feld aus Gold zu sein schien. Ein einziges, gigantisches Holztor diente als Tür. Die obere Hälfte des Turms hatte viele Fenster, und ganz oben gab es sogar einen kleinen Wandelgang. Das Dach verlieh der Zitadelle das Aussehen einer Speerspitze. Die Seiten glänzten wie Metall, und Huma bedauerte nur, daß er kurz an den verruchten Bronzeturm erinnert wurde, der gefährlich nah am Rand des höllischen Abgrunds thronte.
Magus verbeugte sich und lud sie ein voranzugehen. Der Elementar war verschwunden, vielleicht, um wieder die äußeren Grenzen des Hains zu bewachen.
»Hier seid ihr sicher, meine Freunde. So sicher wie nirgendwo auf Ansalon.«
Der Ritter und der Minotaurus traten wie Kinder in das Feld hinaus. Vergessen war die Sorge um den Krieg. Vergessen waren Haß und Furcht. Es gab nur noch die atemberaubende Schönheit des offenen Landes vor ihnen.
Der Zauberer ließ sie vorbeigehen, wobei das Lächeln kurz aus seinem Gesicht verschwand.
Beim Gehen schien etwas Wunderliches zu passieren. Die Zitadelle wuchs. Mit jedem Schritt wurde sie größer und größer. Als sie das Tor erreicht hatten, ragte der Turm hoch in den Himmel hinein.
»Wie kann es sein, daß die Drachen etwas so Riesiges übersehen können?« Diesmal lag kein Argwohn in Kaz’ Stimme, sondern nur Verwunderung.
»Wie dieses Feld?« erwiderte Magus. »Die Dinge sind nicht immer, wie sie zu sein scheinen – oder wie sie gesehen werden. Dieser Ort wurde erschaffen, lange bevor die Menschen überhaupt einen Fuß auf Krynn setzten. Ich habe viel Zeit damit zugebracht, seine Geheimnisse zu enträtseln. Manche Dinge weisen auf Ogerarbeiten hin. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß Oger je einen so schönen Ort anlegen konnten. Vielleicht war es als paradiesischer Garten für die Götter selbst gedacht. Ich glaube, das wäre passender.«
Huma zerstörte den Zauber des Augenblicks, als er husten mußte.
Der Magier zog eine Grimasse. »Verzeiht. Ihr müßt müde und durstig sein. Laßt uns hineingehen, um uns zu erfrischen. Danach wollen wir reden.«
Magus hob wieder seinen Stab und murmelte eine lange Folge scheinbar unsinniger Worte. Der Stab, dessen Glanz nachgelassen hatte, strahlte plötzlich in neuem Licht. Huma wie Kaz waren gezwungen, vorübergehend die Augen zu bedecken.
Das Tor ging auf, wie von einer großen, unsichtbaren Hand geöffnet. Magus verblüffte Huma wieder einmal, obwohl es gut sein konnte, daß auch dieser Trick von jenen alten Vorfahren stammte.
Sie passierten das Tor und betraten eine Halle, die zwar recht klein war, doch jeden Adelssitz durch ihre schiere Extravaganz in den Schatten stellte. Skulpturen von Elfen, Tieren, großen, menschenartigen Wesen, Menschen und offenbar den Göttern selbst säumten die Wände. Wie eine überdimensionale Schlange wand sich eine einzige Treppe in die oberen Geschosse. Ein rotgoldener Wandbehang mit Sternbildern schmückte eine Seite, während ein anderer einen Berg abbildete. Er wirkte so echt, daß er sofort Humas Aufmerksamkeit auf sich zog. In seinem Hinterkopf flüsterte etwas, daß dieser Ort ihm irgendwie bekannt vorkam, obwohl Huma wußte, daß er den Berg noch nie gesehen hatte. Er starrte ihn weiter an, bis Magus’ Stimme den Zauber des Wandteppichs brach.