Aber der wichtigste Satz stand ganz am Anfang.
Der Brief begann mit den Worten:»Ich habe keinen Vater mehr.«
Nach dem Mittagessen, das alle Angestellten gemeinsam mit Herrn Knackfuß einnahmen, während die Tochter die Speisen auftrug und anscheinend in der Küche aß, führte der Apotheker den neuen Gesellen selbst in sein neues Amt ein und übergab ihm — der Riese Bendler und die übrigen Kollegen waren stumm vor Erstaunen — den Schlüssel zu dem Heiligtum der Apotheke: dem Giftschrank.
«Sie haben in einer der ersten Apotheken Deutschlands gelernt, lieber Kummer«, sagte Knackfuß bei dieser feierlichen Handlung.»Ihnen allein vertraue ich an, was nur ich allein bisher in der Verwaltung hatte. Es mag Ihnen und Ihren Kollegen beweisen, daß ich ein hohes Vertrauen in Sie setze.«
Otto Heinrich fühlte eine tiefe Scham in sich aufsteigen.
Hatte er dem rauhen Mann doch unrecht getan?
War dieser Knackfuß etwa nur ein Haustyrann, weil er im Grunde seines Wesens weich und zu nachgiebig war?
Gerührt drückte er dem Chef stumm die Hand, keines Wortes mächtig, und Knackfuß nickte ihm auch nur zu, klopfte ihm auf die Schulter und schritt ohne weiteres Reden aus dem Laboratorium.
Willi Bendler sank auf einen Stuhl und kratzte sich den Kopf.
«Der Alte ist verrückt«, sagte er nach einer Weile.»Glaube mir, Kummer — der Alte leidet an zu hohem Blutdruck. Fünf Jahre bin ich jetzt hier und merke zum erstenmal, daß Knackfuß auch vernünftig — oder besser, nach seiner Art unvernünftig — reden kann! Und dann der Schlüssel zum Giftschrank! Das verschleierte Bild zu Sais in dieser Apotheke! Mensch, Kummer, Freund — das wird der Alte bis zu seinem Lebensende bereuen!«
Otto Heinrich antwortete ihm nicht, sondern ging still in die Ecke, schloß den Schrank auf und studierte die einzelnen Flaschen, Töpfe, Tiegel und Mörser, die in säuberlicher Ordnung, gepflegt und behütet, in den langen Regalen standen. Auf jedem Etikett stand ein Totenkopf mit dem Wort Gift, während der Grad des Giftes durch besondere Schildchenfarben angezeigt war. Schwarz war demnach das stärkste und gelb das leichteste Gift, und es rann eine große Beglückung durch die Seele des Jünglings, diese Kostbarkeiten als einziger verwalten zu dürfen.
Das Leben eines Apothekers begann nun abzurollen. Wie in der Hofapotheke kamen die Patienten und wünschten dies oder jenes, eine Medizin, eine Farbe, einen Rat auch nur, und das Mischen und Kochen, Wiegen und Schütteln hinter der Holzwand des kleinen Laboratoriums war so gewohnt wie die fast sich immer wiederholenden Bitten der Käufer.
Am Abend, nach dem Abendessen, das wieder gemeinsam eingenommen wurde und bei dem Otto Heinrich die Jungfer Trudel keines Blickes würdigte, sehr zur Freude des Vaters, dessen Gedanken sich aber schon damit beschäftigten, zu ergründen, warum der neue Geselle so ohne Zeichen eines Interesses für seine Tochter sei, gingen Bendler und Kummer noch ein wenig im Garten des Hauses spazieren.
Der Garten, der sich hinter dem Gebäude hinzog und an den Garten des Bürgermeisters stieß, beherbergte in einer Ecke eine hölzerne Laube mit einem in den Boden gerammten Holztisch und einer Rundbank, während eine Öllampe von der Decke hing, deren Schirm schon arg verblichen war.
In diese Laube traten die Freunde, entzündeten sich eine Pfeife mit einem Tabak, den Bendler in seiner Dose anbot, und lustig qualmend sahen sie in den Abend und lauschten auf ein Spinett, das aus dem Fenster des Bürgermeisterhauses tönte.
«Das ist die Marie«, erklärte Bendler und zeigte mit dem Pfeifenstiel in Richtung der schwirrenden Töne.»Eine Freundin der Jungfer Trudel. Netter Kerl, schwarzlockig, sprühlebendig — ein Springbrunnen von einem Mädchen. Was sie über alles liebt, ist Mozart. >Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich…< kann sie stundenlang spielen. «Bendler lachte.»Aber als ich ihr anbot, diesen Wunsch en person zu erfüllen, schalt sie mich mächtig aus!«
«Kann die Jungfer Trudel auch spielen?«fragte Kummer sinnend.
«Ich glaube. Gehört habe ich es nicht. Im Hause ist ja kein Instrument, weil der Alte jegliche Art von Kunst von sich fernhalten will. Es kann aber sein, daß sie bei Marie spielt oder übt.«
«Es wäre schön, wenn sie es könnte. «Kummer träumte ein wenig vor sich hin und spielte mit der Pfeife.»Man könnte dazu singen… das gäbe einen guten Klang. Abends, nach der Arbeit, wenn draußen im Sommer die Grillen das letzte Lied summen, würden dann die Töne des Liedes mit dem Abendwind rauschen.«
«Ihn hat's gepackt!«schrie der Riese auf.»Heilige Einfalt — der Kerl ist verliebt! Habe ich dich nicht gewarnt?! Seit Jahr und Tag geht es so. Ein Geselle kommt, sieht die Jungfer Trudel, schmachtet in der Laube und sitzt am nächsten Tag vor der Tür! Kreuzsakra-mentnochmal — könnt ihr Jammerlappen euer Herz nicht ein wenig in die Hand nehmen! Soll es mit dir genauso gehen? Sieben Gesellen zogen binnen einem Jahr hier ein und zogen umgehend auch wieder hinaus, alle wegen Jungfer Trudel! Und jetzt fängt der Kerl auch an. Lieder am Abend! Spinett. Grillengesang, sommerlicher Abendwind! Mein Gott — laß ihn nüchtern werden!«
Otto Heinrich Kummer schüttelte lächelnd den Kopf. Er legte dem Freunde den rechten Arm um die Schulter und blickte nachdenklich empor an das Dach der Hütte. Tief atmete er auf.
«Es ist nicht Liebe, Bendler, alter Brummbär. Es ist ein bißchen Sehnsucht nach dem Leben, das ich nur in der Fantasie kenne. Ein wenig Träumen nach der Seele, die man so selten findet. Wie könnte ich lieben? Ich, ein Mensch, der nicht weiß, warum er lebt?! Könnte ich lieben, so könnte ich auch das Leben bejahen — aber weil ich das Leben, so, wie es ist, verachte, kann ich auch nicht lieben. «Und leise sagte er:». auch wenn ich es möchte.«
Willi Bendler blickte ihn von der Seite an.
«Hast du einmal etwas von Maltitz gehört?«fragte er.
«Maltitz? Nein.«
«Es ist ein revolutionärer Dichter. Gotthilf August Freiherr von Maltitz, ein feuriger Geist, der kein Pardon mit der Fäule unserer Zeit kennt. Er hat einen Band politischer Gedichte geschrieben. Pfefferkörner nennt er ihn. Und sie sind gepfeffert und gesalzen, daß den Bürgern und Speichelleckern die Augen tränen!«
«Ich habe nie von ihm gehört«, sagte nachdenklich Otto Heinrich.
«Ein Feuergeist, wie ich schon sagte. Man sollte seine Gedichte in aller Munde bringen!«
«Man müßte sie erst lesen«, antwortete Kummer vorsichtig.
«Sollst du, sollst du — ich habe zwei Bücher bestellt. Sie sollen mit der nächsten Post aus Dresden kommen. Selbst in Berlin erregt dieser Maltitz die Gemüter mit seinen spöttischen Liedern, ein zweiter Posa, der das Ideal des Staates aufruft!«
«Es gibt so viele Worte«, sagte Kummer sinnend.»Was die Zukunft braucht, sind Taten!«
«Am Anfang stand das Wort«, sagte Bendler laut.
«Das Wort. Wer hörte auf Schiller? Auf Kleist? Einen Schubart ließ man auf der Festung verfaulen, einen Körner schickte man in die Schlacht, wo er zur rechten Zeit fiel, einen Grabbe verschreit man als irr, und einem Fichte hört man zu wie einem guten Advokaten. Das Volk saugt ihre Worte auf, ja, es wäre bereit, die Fahne der Freiheit selbst in die Hand zu nehmen und die Draperien von überlebten Etiketten zu reißen. Aber sie kommen nicht dazu. Jene, die kraft ihres Namens oder ihres Beutels die Fäden der Völker ziehen, lassen sich nicht bestimmen durch Worte und Gesänge — sie rechnen nur, sie haben das Hauptbuch der Völker aufgeschlagen und addieren und subtrahieren mit der Nüchternheit eines Herrn Knackfuß! Glaubst du, du könntest ihn mit deinem Maltitz bekehren?«
«Ich säße morgen vor der Tür!«
Kummer lächelte.»Was nützt dir da das feurigste Gedicht?«
Der Riese Bendler schien es einzusehen.
Sinnend starrte er vor sich auf den Sand, trommelte mit dem Pfeifenstiel auf seinen breiten Fingernägeln und hatte die Unterlippe nach vorn geschoben, daß sie wie eine Schaukel wirkte.