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Gruß!

Mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst erhob sich Kummer und ging zum Bette Bendlers, auf dessen Kopfkeil er jetzt ein zusammengefaltetes Papier sah.

Ein rasendes Herzklopfen erstickte plötzlich den Atem des Provisors. Ein leeres Bett, ein Brief auf der Decke und draußen ein grauer, regnender Winterhimmel, der den Schnee von gestern erweichte, zusammenschmelzen ließ zu einer laufenden, breiigen Masse, zu Schlamm und kaltem, grauem Morast. mein Gott. Willi Bend-ler. Bendler. das ist doch nicht möglich.!

Otto Heinrichs Hand griff nach dem Brief, dann zuckte er zurück und ließ das Papier liegen. Die immer schwerer werdende Angst schnürte die Kehle zu.

«Mein Gott. das kann doch nicht sein!«stammelte Kummer und starrte auf den weißen Brief. Zögernd trat er wieder auf das Bett zu, nahm mit einem tiefen Atemzug das Papier von der Decke, zögerte wieder und entfaltete es dann entschlossen mit schnellen, überhastigen Griffen.

«Mein lieber Otto Heinrich«, las er, dann verschwammen die Buchstaben einen Augenblick vor seinen Augen, er setzte sich auf Bendlers Bett und starrte vor sich auf den Bretterboden. Nach einer langen Pause erst nahm er den Brief wieder auf und begann ihn langsam zu lesen.

«Das Leben ist wie der Stall des Augias, für den sich kein Herakles findet«, stand da in Bendlers klotziger Schrift.»Ich aber bin kein Mensch, der in der Stille sitzt und zusieht, wie der Kot sich häuft und höher, immer höher steigt, bis er den Mund erreicht und wir an unserem eigenen Dreck ersticken. Ich muß hinaus, ich bin ein Raubtier, das die Freiheit kennt und in den Käfigen der allgemeinen Sitte zur Flöte bürgerlicher Angstmoral tanzen und feixen muß. Ich liebe Menschentum, wenn es sich dehnt und seine Kräfte kennt und segenbringend nutzt. Ich liebe dieses Leben, wenn es den Zweck ergreift, den Menschen zu ver-edeln und zu heben. Ich liebe alles, was mich Mensch sein läßt in einer Freiheit, wo die Kräfte spielen und die Wahrheit mehr ist als ein Anstandswort des bürgerlichen Katechismus. Und darum gehe ich! Nenn' mich jetzt untreu, unmoralisch, einen Schuft — einst wirst Du sehen, daß es mehr gibt als die Pflicht von Mann zu Mann — die Pflicht zum Leben und die Verantwortung vor unserem Menschentum. - Verzeih, wenn ich so gehe. Ich wollte Dich nicht sprechen, weil ich dann nicht hätte gehen können. Nun bist Du einsam — ist die Einsamkeit zu groß, so komm zu mir. Ich bin Dir stets ein Freund. Du findest mich überall, wo sich das Neue Bahn bricht. Leb wohl, ich weiß, daß Du einst kommst. Wir dürfen unser Leben nicht erträumen — wir müssen es entdecken und erobern. Immer.

Dein Willi Bendler.«

Und ganz am Rande stand, eiligst hingeworfen, ein Satz, der so voll Willi Bendler war, daß Otto Heinrich trotz der Bestürzung seines Herzens lächeln mußte:

«Dem Prinzipal gib als meinen letzten Gruß das schöne Drama unseres Goethe >Götz von Berlichingen<. Er wird die Stelle kennen, die ich ihm zum Abschied sage — zum Gurgeln hinterher empfehle ich dann Salbeitee.«

Allein in einer schmalen Kammer unter klappernden Ziegeln, im Hause ein Mann, der einen haßte mit aller Glut und Inbrunst, die in den Hirnen aufgescheuchter Eremiten spukt, ein Mädchen, das man liebt und küßt und das auf ihrer Seele noch den Glanz der Unschuld trägt und das so weit ist, unerreichbar, sternenhaft nur wünschenswert, weil dieses Leben Schranken setzt und die Vernunft in Hohn verwandelt. O wie grausam, wie ekelhaft, wie sinnlos ist doch das Leben.

Otto Heinrich Kummer stöhnte zwischen den Händen, mit denen er seinen Kopf hielt. Er ahnte plötzlich, wie nahe der Wahnsinn bei der Wahrheit liegt. Er zitterte bei dem Gedanken, zu le-ben, um stündlich, von Minute zu Minute, im Ticken des Sekundenzeigers, diesem abscheulichen, erbarmungslosen, perversen Ticken der Uhr, sich dem Grabe zu nähern und am Ende des Wan-derns zu sehen: das Leben war schön, aber jetzt, wo der Sprung ins Dunkel, ins ewige Vergehen, in das Ausgelöschtsein beginnt, sinnlos in seiner Hast und seinen Idealen, denn was sind 60 oder 70 oder 80 Jahre, wenn das Dunkel kommt und kein Erinnern, kein Beschauen seines Lebens?! Warum sich quälen, wenn der Lohn der Qual das Nichts ist?

Otto Heinrich Kummer bedeckte die Augen mit den Händen und warf sich auf das Bett des Freundes, das Gesicht in die Decken gepreßt. So lag er eine lange Zeit, bis er sich mühsam aufrichtete, den Brief faltete und an das kleine Lukenfenster trat.

«Man könnte sich vom Dache in den Garten fallen lassen«, dachte er schaudernd und wandte sich ab, wusch sich, kleidete sich an, richtete das Bett, lüftete das Zimmer, alles mit seelenlosen, mechanischen Griffen. Dann steckte er den Brief Bendlers in die Rocktasche, ging die steile, knarrende Treppe hinunter, öffnete die Tür zum Vorderhaus, ging den teppichbelegten Flur entlang, blickte auf halbem Wege in den breiten Trumeau-Spiegel, neben dem zu beiden Seiten Jagdtrophäen verstaubten, und zögerte erst vor der Tür des Wohnzimmers des Prinzipals.

Ein leichter Schritt auf dem Teppich ließ ihn herumfahren.

Trudel schlüpfte aus der Küche, gab ihm einen schnellen Kuß und flüsterte mit einem Blick auf die Zimmertür:

«Der Vater ist wütend! Bendler hat den Laden nicht aufgeschlossen und die Decken vom Schaufenster genommen. Die Gesellen standen vor der Tür und konnten nicht herein. Man dachte in der Stadt schon, es sei etwas geschehen. Und auch du warst nicht da und kommst erst jetzt! Der Vater schiebt die Schuld dir zu: du seiest als Provisor sein Stellvertreter. Er wird schimpfen. «Und plötzlich zuckte die Angst durch ihren Blick.»Denk an gestern nacht, Liebster. Nimm es dem Vater nicht übel. Schweige, ertrage es. es geht vorüber. Denk an uns. Du weißt ja, was mit Vater ist… nicht wahr… du denkst daran?«

Otto Heinrich würgte es in der Kehle. Er nickte, strich ihr über die blonden Flechten, knickte den Zeigefinger und klopfte hart an die Tür.

Ein lautes, herrisches, zorniges» Herein!«tönte durch das Holz. Schnell verschwand Trudel in der Küche.

Mit einem Ruck öffnete Otto Heinrich die Tür und trat ein.

Am Tisch saß zornrot der Prinzipal und hob die Hand.

«Herr Kummer. ich.«

Doch eine Armbewegung Kummers ließ ihn schweigen. Stumm sahen sich die Männer an. Dann sagte Otto Heinrich:

«Willi Bendler ist heute nacht geflüchtet — in die Freiheit!«

Dann drehte er sich brüsk um und verließ den Raum.

Starr sah ihm der Apotheker nach, ungläubig, erschreckt, sprachlos.

Und er starrte noch immer auf die geschlossene Tür, als unten im Laden das Leben begann.

Kapitel 3

Kurz vor Weihnachten, es mag Freitag, der 12. Dezember 1834 gewesen sein, brachte der Postmeistergeselle von Frankenberg einen versiegelten Brief, der mit der Abendpost gekommen war, in das Haus der Apotheker und wurde von dem seit der Flucht Bendlers merklich in sich gekehrten Knackfuß in die Bodenkammer Otto Heinrichs verwiesen.

«Ein Brief für den Herrn Provisor«, sagte der Geselle, als er ins Zimmer trat und den jungen Apotheker lesend und auf der Decke des Bettes liegend antraf.»Ein Brief aus Dresden.«

«Aus Dresden?«Mit einem Satz sprang Otto Heinrich auf und trat dem Boten entgegen, die Arme weit ausgestreckt.»Aus Dresden einen Brief! Welch ein Wunder! Er kommt von meinem Vater Gotthelf Kummer?«

Der Geselle drehte die Siegel vor den Augen und schüttelte den Kopf.

«Es scheint nicht so. Der Herr Absender nennt sich A. von Maltitz.«

«Maltitz? Aus Dresden? — Geben Sie her — das wird eine freudige Nachricht!«Er drückte dem Boten einige Kreuzer in die Hand, nahm den schweren Brief und eilte mit ihm zum Tisch. Mit einem» Gute Nacht, Herr Provisor!«verließ der Postmeistergeselle die Stube und tappte die steile Treppe hinab.