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In seiner Kammer entzündete Otto Heinrich eine zweite, kleine Tischlampe, um den Brief mit mühelosem Behagen lesen zu können; dann besah er sich eine gute Weile die roten und blauen Siegel mit dem freiherrlichen Wappen derer von Maltitz.

Der Brief war oft gefaltet, von schwerem breitgerilltem Pergamentpapier und eng beschrieben mit einer zierlichen, fast tänzerischen Schrift.

Er glättete ihn mit beiden Handflächen auf der kleinen Tischplatte, schob die Lampe näher heran, sprang noch mal auf und legte zwei dicke Tannenscheite in den Ofen, um nicht durch ein Verglimmen der entfachten Glut gestört zu werden, und setzte sich dann bequem zurecht, den ersten Brief, den er in Frankenberg erhielt, zu lesen.

«Mein liebster Freund — «

Das war das erste, was er las, und eine tiefe Freude durchrann sein Herz, genannt zu werden wie die wenigen Auserwählten, die wirklich einen Freund fürs Leben fanden und nie bereuten, eine Hand vertrauensvoll gedrückt zu haben.

«Mein lieber Freund!

Sie werden sehr erstaunt sein, von einem Manne ein paar Zeilen zu empfangen, den Sie vielleicht schon längst aus dem Gedächtnis strichen, in dem die wenigen Stunden in Augustusburg nur schemenhaft als eine ferne Erinnerung spuken. Und doch möchte ich heute um Ihr Gehör bitten, weil ich die ganze Zeit über das bestimmte Gefühl nicht zu unterdrücken vermochte, in Ihnen einen Menschen gefunden zu haben, den das Schicksal weit über seine Jahre reifte und der nach bürgerlicher Standmoral so vermessen ist, den Blick zu Sternen zu erheben, die fern dem Wissen unserer breiten Masse schweben.

Ich grüße Sie aus Dresden. Ein wenig Heimatluft müssen diese Zeilen jetzt in Ihre Stube tragen, denn ich hielt den Brief, bevor ich ihn schloß, an der Elbe an den Wind und tränkte ihn mit der würzigen Schneeluft, die von der Vogelwiese zu mir herüberwehte.

Dresden ist eine herrliche Stadt! Es ist eigentlich ein Garten Eden für das die Schönheit begreifende Künstlerauge, und wenn ich durch den mächtigen Zwinger wandere und vom Flachdache auf den Nymphenbrunnen schaue, so scheint es mir, als habe diese Stadt nur noch in Rom und Paris ihre Konkurrentinnen an Ewigkeit und berückender Glückhaftigkeit.

Sie sind in einem Paradies geboren, junger Freund!

Aber nun, mein Liebster, bitte ich Sie um Haltung und um Bezwingung Ihres Herzens. ich war als Gast bei Ihrem Vater.«

Otto Heinrich ließ das Blatt sinken und schloß die Augen. Ein merkwürdiges, bedrückendes Kribbeln zog über sein Herz, drohte den Schlag zu hemmen und ließ ihn schwer und schneller atmen.

Der Vater.

Er sah seine große, kräftige Gestalt vor sich, den strengen Blick, mit dem er, ohne viel zu sprechen, den großen Hausstand dirigierte. Er sah die Mutter, das wertvolle Spitzenhäubchen auf den angegrauten Haaren, durch die Zimmer gehen, die kleine Schwester Anna Luise an der Hand, den Liebling der Familie, dem man alles verzieh, weil es, ein Kind unter Erwachsenen, die Herzen aufriß mit dem Jauchzer ihrer Kindlichkeit.

Otto Heinrich blickte auf. Die blonde Locke war ihm in die Stirn gefallen, sie pendelte vor seinen Augen und behinderte den Blick. Mit einem Schwung des Kopfes schleuderte er sie wieder auf sein Haupt und beugte sich dann erneut über den Brief.

«Ihr Vater ist ein vortrefflicher Mann. Da ich abends kam, lud er mich zur Tafel, wo ich Ihre hochverehrte Frau Mutter und Ihre Geschwister kennenlernte. Mit der kleinen Anna Luise habe ich Freundschaft geschlossen… sie sieht Ihnen so ähnlich, nur hat ihr kleines Auge noch den Funken Freude, der sich bei Ihnen tief ins Herz vergrub. Warum nur, liebster Freund? Das Leben ist nichts wert, schon recht — doch muß es halt gelebt werden. Das ist die Kunst: verachten und doch lieben!

Was rede ich: Ihr Vater fragte mich, er machte sich um Ihre Zukunft mannigfache Gedanken und scheint mit dem Gedanken sehr befreundet, Sie nach dem Ablauf eines Jahres als Provisor an die Hofapotheke nach Dresden zurückzuholen. Er sprach sehr lobend über Sie — fast schien es Stolz —, und er war beglückt, als ich Sie einen Freund und edlen Menschen nannte.

Meinen Namen kannte er! Auch meine >Pfefferkörner< waren ihm geläufig — er fand sie — eine rege Diskussion kam nach dem Essen auf — ein wenig zu vulgär. Man könnte Scharfes auch mit Zucker mischen, Baldrian mit Honig, Würzfleisch mit Marsala! Ich sagte ihm, daß meine Absicht nicht Beruhigung, sondern Aufruf wäre, daß ich das Volk ergreifen wolle, nicht die dünne Schicht der Aristokratie, daß ich — wie Luther — ihnen auf das Maul schaue (ich sagte wörtlich Maul, das imponierte ihm!) und nicht mit der geschraubten Zunge leere Platitüden drechsle. Er sah das ein, mit vielen bürgerlichen Vorbehalten, für die ich, stäke ich in seiner Haut, Verständnis habe — doch schien ihm meine Art, die Dinge nackt und ohne Illusion zu sehen, zu lebensfeindlich, denn Leben — sagte er — ist nicht der Zweck, den Sinn zu erforschen, sondern sich mit den von Gott gegebenen Dingen zu befreunden und sie zu meistern. - Eine gute Lehre! Aber ich verlange mehr vom Menschen: In meinen Augen ist das Leben Kampf,

Kampf um das Ich, für das Ich, wegen des Ichs! Das Leben ist die Essenz einer sich selbst errungenen Moral!«

Otto Heinrich Kummer blickte wieder auf und starrte in die blakende Lampe. Seine Augen schmerzten, er legte die Hände über das Gesicht und lehnte sich zurück.

Leben… hat das Leben eine Moral? Man quält sich sechzig oder siebzig Jahre um Brot und Wasser, man kämpft um dieses Leben, muß ja kämpfen, denn Verhungern ist ein bestialisch harter Tod — und dann kommt aus dem Dunkel ein Schatten an dein Bett, und dieser Schatten spricht und sagt:»Vorbei! Das Leben ist vorbei —! Da staunst du, was? Du kannst's nicht ändern — da hilft dir nichts und niemand, du mußt schon still und brav sein, wenn ich winke. Vorbei, mein Freund — man kann auch sagen: Du mußt sterben. Mußt, hörst du — ob du willst, danach wird nicht gefragt. Man fragte dich ja auch nicht, ob du leben wolltest — warum soll denn das Gehen anders als das Kommen sein?!«

Und dann kommt dieser Schatten über dich, erdrückt dich, würgt, erstickt dir deinen Atem, und du bist auch nur noch ein Schatten, der im Nichts zerflattert. Zurück allein bleibt der Gedanke, den das letzte Zucken deines Hirns gebar: Wie sinnlos dieses Leben, wie einsam in der Tiefe dieser Weg von der Geburt bis in den Tod, wie grauenvoll pervers das hochgepriesene Ethos eines für das Nichts vertanen Lebens.

Das einzige, das alles überlebt, ist Kälte.

Unendlich ausgestreute Kälte.

Weltraumkälte.

Nichts.

Otto Heinrich Kummer erschauderte. Die Einsamkeit, die seit der Flucht Bendlers sich um ihn legte, der schroffe Ton des Apothekers Knackfuß, dem die Auseinandersetzung wie eine Nadel in der Seele stak, und die Zurückhaltung Trudels seit diesem Tag, dieses Ausweichen und flehende Blicken, alles wurde in Otto Heinrichs Brust zu einem Berg, dessen Gipfel hoch im Unbegreiflichen schwebte und nur den einen grausamschönen Gedanken erweckte, ihn zu erklettern und sich dann mit einem Lächeln hinabzustürzen in die Unendlichkeit, in das wissende Dunkel.

Mit einem Seufzer nahm Kummer den Brief wieder auf und schraubte die Lampe ein wenig niedriger, weil das unreine Öl einen übelriechenden Qualm abzusondern begann.

«Am nächsten Abend«, las er weiter,»war ich erneut der Gast Ihres liebwerten Vaters. Doch schien er mir im Vergleich zu gestern sehr bedrückt und fahrig, er sprach ohne Zusammenhang, sprunghaft, wie es nicht seine Art ist, er spann die Gedanken nicht zu Ende, bedeckte oft, als befalle ihn Ermüdung, die Augen mit der Hand und schien mir dankbar, als ich mich entschuldigte, eine Besprechung vorgab und ihn verließ.

Das veränderte Wesen Ihres Herrn Vaters schien mir unerklärlich. Eine häusliche Ursache hatte es nicht, denn Ihre Frau Mutter war ebenso entsetzt und ratlos, wie ich es war, und drang vergeblich in den unerklärlich stillen Mann, von dessen Lebhaftigkeit und sprudelndem Geist nur noch die Funken unter einer fremden Asche schwelgten.