Выбрать главу

Da der Abend angebrochen war, ging ich in die herrliche Dresdener Oper. Man spielte Mozarts Don Giovanni mit dem göttlichen Tonio Traverna als Don Juan.

Im Foyer des prächtigen Hauses traf ich auf einen alten Bekannten meiner Studierzeit und war erstaunt, daß er, als das Gespräch auf Sie, mein Freund, kam, Sie persönlich kannte und mir — ich wollte es nicht glauben — bis zu den Stegen Ihrer grauen Hosen porträtgenau beschrieb. Es war der Herr Baron von Seditz.«

Otto Heinrich blickte kurz auf. Seditz? Baron von Seditz? Er suchte in den Fächern der Erinnerung und fand einen gütig lächelnden Herrn, der ihm auf der Poststation in Frankenberg — ja, auf der Hinreise war es — die Hand drückte und alles Gute wünschte. Und den Vater kannte er, ja, er erinnerte sich genau — er sprach von seinem

Vater und von einer dringlichen Mission.

Das Bild verschwamm, erlosch — und Otto Heinrich blickte wieder auf den engbeschriebenen Bogen.

«Dieser Herr von Seditz«, schrieb Maltitz,»ist ein Mann von Welt! Geheimer Kabinettsrat Seiner Majestät des Königs von Sachsen, verkörpert er so gar nicht die Spitzenaristokratie einer höfischen Kamarilla, sondern er machte auf mich eher den Eindruck eines in geregelten Bahnen hineingelebten Lebemannes, eines Menschen, der den Wert des Lebens an den Lippen seiner Geliebten abliest und nicht müde wird, seine Treue zu beteuern, obgleich beide wissen, daß alle Worte nur gesprochen sind, das Glück einer flüchtigen Stunde nicht zu verfinstern.

Doch hinter seinen Blicken schlägt Tatkraft und ein harter Wille. Ich spürte ihn, als unser unterhaltsames Gespräch von Ihnen zu Ihrem Vater überging und mir so vieles klar und plötzlich tragisch wurde, vor dem ich noch vor einer Stunde ratlos stand.

Mein bester Freund, ich bitte Sie um Haltung, die Nachricht mannhaft zu ertragen: über Ihrem Vater liegt der Schatten der Madame de Colombique.«

Madame de Colombique? Otto Heinrich sann, den Kopf in die Hände gestützt. Madame de Colombique? War das nicht die würdige, aufgeregte Dame in der Kutsche, die sich vor den Räubern fürchtete und beim Ausladen ihre Koffer nicht fand? Und der Baron von Seditz… wie war das noch… fuhr er nicht mit, die Dame an der Grenze zu verhaften, weil sie als Spionin. Ja, als Spionin. das war es. Er staunte damals noch und betrachtete die Dame im Halbdunkel der schwankenden Kutsche mit einem Gefühl von abenteuerlichem Interesse!

Aber sein Vater? Madame de Colombique und der Münzmarschall Kummer? Mein Gott, es war nicht auszudenken, wenn die Spionage auch den Vater in die Ketten warf!

Erregt beugte sich Otto Heinrich vor und las weiter:

«Ihr Vater schwebt in einer großen, unverdienten Gefahr! Ihn traf die Ungnade Seiner Majestät, als Sie erfuhr, daß es die Bitte Ihres Vaters war, die der Madame de Colombique einen laissez-passer vom Präfekten erwirkte. Zudem hatte man Ihren Vater beim Hofball oft in der Nähe der Dame gesehen, obwohl es Seine Majestät ablehnte, die Dame vorgestellt zu bekommen.

Es war bestimmt nur das gütige, ahnungslose und redlich denkende Herz Ihres Herrn Vaters, das ihn bewog, der Madame de Colombique seine Gegenwart zu schenken und ihr bei einem Grenzpaß behilflich zu sein. Ich bin auch zutiefst davon überzeugt, daß Ihr Vater bis zur Stunde seiner Ungnade nichts von dem wahren Treiben dieser Dame ahnte, geschweige wußte — doch in den Kreisen des Hofes genügte es, Ihren ehrvollen Herrn Vater in einer lockeren Verbindung zu einer Dame zu sehen, die — wie sich herausstellte — mit den hohen Offizieren fast aller Truppenteile intime Beziehungen unterhielt zu dem Zwecke, militärische Geheimnisse durch den Duft ihres vielleicht reizvollen Boudoirs zu erbeuten. Daß ihr dies in einigen Fällen gelungen ist, mag die Dummheit der betreffenden Offiziere beweisen oder von der Macht eines Frauenkörpers sprechen, der, in Spitzen und seidene Kissen gebettet, Himmel und Hölle zugleich verspricht.

Madame de Colombique, die sich eine Französin nannte, französisch sprach und kleidete, aber eigentlich Vera Veranewski Bul-kow heißt, aus Moskau stammt und für den Zaren als Spür- und Schoßhund tätig ist, konnte ins Preußische entkommen — dank des laissez-passer Ihres Vaters.

Hier liegt die große Tragik dieses redlichen, treuen, ahnungslosen, pflichtbewußten Mannes — die Ungnade seiner Majestät ist nur das Rauschen des Vorhangs über den 1. Akt eines Stückes, von dem man noch nicht weiß, ob es eine Tragödie oder nur ein am Ende versöhnendes Schauspiel wird.«

Mit sich steigernder Erregung hatte Otto Heinrich die Zeilen gelesen. Nun warf er das Schreiben auf den Tisch, hieb die Faust darauf, daß die Tranlampe klirrte und blakte und der Glasschirm einen Rußstreifen bekam, und sprang dann auf. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet.

Mit großen Schritten ging er in der Kammer hin und her.

Der Vater in Ungnade! Verwickelt in Spionage!

O Vater… Vater… armer Vater. Nun ist die Einsamkeit vollendet bei dir. und mir. den Namen Kummer umweht der Hauch des Moders, des Grabes, des Vergessens. Vielleicht. du unglücklicher Vater. vielleicht verstehst du jetzt den fernen, verstoßenen Sohn Otto Heinrich. Vielleicht spürst du jetzt selbst die Kälte von den Sternen steigen und die Wünsche lauter werden, dort zu sein, wo alle Qualen nichts sind vor der Größe des unbegreiflich Ewigen. Vielleicht erkennt dein Herz jetzt auch den anderen Gott, nicht den, von dem man von der Kanzel spricht, sondern den unbekannten, der in dem Wissen schläft, daß unser Leben nur eine Brücke ist, die von dem einen Dunkel in das andere führt, ein kleiner Weg durch das Bewußtsein, nach dem die köstliche Stille des Unbewußten folgt, des Unaussprechlichen — die Nähe Gottes.

«Vater«, sagte Otto Heinrich leise.»Liebster Vater. wenn ich dir doch helfen könnte.«

Er stand lange Zeit schweigend am Fenster und sah in die Sterne. Erst als es kühl im Zimmer wurde, ging er zum Ofen, blies das verflackernde Feuer an, legte einige trockene Scheite nach und ging zum Tisch zurück.

Vom Turme der nahen Kirche schlug die Zeit. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen — es war ja auch gleich. was ist die Zeit. ob heute, morgen oder übermorgen. das Leid der Menschen ist beständiger als der seltene Kerzenschimmer des Glückes.

Langsam nahm Otto Heinrich den Brief vom Tisch und las ihn im Stehen zu Ende.

«Das war es, was ich Ihnen zu melden habe, mein liebster Freund. Seien Sie stark im Gram und Schmerz — die Prüfungen des Lebens sind nie so groß, daß sie untragbar wären; denn wer wie

Sie und ich das Leben so unwichtig nimmt, wird nicht vor solchen kleinen menschlichen Leiden in die Knie sinken. Es ist die Lehre der Stoiker, das Leben dem Gleichklang der Natur gleichzusetzen. Sie setzen der Vernunft ein Denkmal in dem Ideal der Selbstbeherrschung. Gott ist die Natur, das Wirkliche ist körperlich, die Kraft ist der edelste und feinste Stoff des Lebens — die Kraft des Ichs. Seien Sie stark, liebster Freund, stark auch im Leid, und helfen Sie Ihrem Vater, indem Sie die Kraft finden, das Wirkliche zu tun: die Türen Ihres Vaters stehen offen.

Ich hoffe, Sie bald zu sehen. Ich bleibe bis zum neuen Jahr in Dresden. Leben Sie wohl, bester Freund, und gedenken Sie in schwerster Stunde der Worte Galileis: Und sie bewegt sich doch!

In immerwährender Freundschaft

Ihr A. v. Maltitz.«

Unter dem Schreiben stand in einer steilen, energischen Schrift, die sich hart von den Kringeln der Maltitzschen Zeilen abhob, ein kurzer Satz.

«Ich rate Ihnen als Freund: Kommen Sie nach Dresden. Herzlichst von Seditz, Geheimer Kabinettsrat Seiner Majestät des Königs von Sachsen.«

Otto Heinrich ließ das Schreiben auf den Tisch fallen und warf sich auf sein durch eine Decke geschütztes Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die gekalkte Decke, auf die der Schein der Tischlampe einen fantastisch geformten, an den Rändern dunkel ausgefransten Lichtkreis warf.