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Nach Dresden, dachte er, nach Dresden.

Weihnachten in Dresden. Spazierengehen im Schnee unter der hohen Kuppel der Frauenkirche. Und am Heiligabend läuten von allen Türmen die Glocken das Halleluja.

Otto Heinrich schloß die Augen und drehte sich zur Seite. Er schämte sich vor sich selbst, daß er weinte, er schalt sich einen Narren, als das Schluchzen seinen Körper schüttelte… aber er schluchzte und weinte wie ein Kind und fühlte unter den Tränen sein Herz freier, weiter und lichter werden.

«Ich komme, Vater«, flüsterte er.»Ich komme zu euch zurück. Wartet auf mich. Ich komme.«

So lag er mit geschlossenen Augen, unter deren Lidern die Tränen hervorquollen, und regte sich nicht. Unmerklich dämmerte er hinüber in die Welt des Traumes, und als die blakende Lampe den letzten Tropfen Öl saugte und flackernd erlosch, schlief er endlich ein.

Otto Heinrich erwachte erst, als die vereinzelten Schneeflocken sich zu einer lautlosen Flut vereinigt hatten, die unaufhörlich niederrieselte und das Städtchen, den Wald und die Berge einwattete. Der fahle Tag, der sich durch den grauüberzogenen Himmel quälte, war schon ein Stück vorübergeschritten, die Turmuhr zitterte mit ihrem Schlag durch das lautlose Geriesel und verriet, daß es die neunte Stunde sei, und Otto Heinrich, den es in seinen Kleidern auf dem Bett erbärmlich fror, erhob sich vor Kälte zitternd, tappte auf den Flur, wusch sich unter Schütteln in dem schmalen Becken, feuchtete mit Wasser die wirrgelegenen Haare an und bürstete sie dann mit einer kleinen Taschenbürste.

Da es Sonntag war, kleidete er sich um, fuhr in die graue, enganliegende Hose und den steifen, gefütterten Winterrock aus weinrotem, flandrischem Tuch, suchte einen reinen, steifen Eckenkragen und eine blaugraue breite Halsschleife, legte beide an und besah sich dann in dem niedrigen Spiegel, noch immer etwas verschlafen, übelgelaunt und frierend.

Er zog die Decke des nichtbenutzten Bettes glatt, räumte die Tranlampe zur Seite, faltete den Brief nach einem kurzen Zögern und steckte ihn in den Rock und trat dann auf die Treppe, hinunter zum Frühstückstisch zu gehen.

Von unten, über den Korridor, hallte die helle Stimme von Trudel. Dann klappte eine Tür, und das Haus lag wieder still.

Mit langen Schritten eilte Otto Heinrich die Treppe hinab, durchmaß den Flur mit einigen Sätzen und klopfte dann energisch an die

Tür des Speisezimmers.

«Bitte!«ertönte eine harte Stimme als Antwort. Der alte Knackfuß schien übler Laune zu sein. Nichts Neues an ihm, dachte Kummer und drückte die Klinke herunter.

Als er eintrat, sah ihm der Apotheker zuerst erstaunt entgegen — dann sprang er auf, eine leichte Röte durchzuckte sein Gesicht, die Augen wurden gläsern, farblos, schlangenhaft.

«Sie?«sagte er gedehnt.»Ich dachte, Sie wünschen allein zu essen?«

«Mein Vorsatz hat sich nicht geändert«, antwortete Otto Heinrich kühl.»Ich habe lediglich um eine Bitte nachzusuchen.«

«Ich höre.«

«Mein Vater bittet mich, die Feiertage in Dresden zu verleben. Wenn seine Bitte nicht dringlich wäre und familiäre Sorgen eine Sprache sprächen, würde ich mich nicht an Sie gewandt haben. So aber bitte ich um Urlaub über Weihnachten.«

Kummer hatte höflich, aber im bestimmten Ton gesprochen. Dem Apotheker aber, dem Unterwürfigkeit des Personals das Bewußtsein seiner kleinen Macht stets von neuem nährte, gefiel die Sprache nicht. Er runzelte die Stirn, musterte den Provisor vom Kopf bis zu den Schuhen, drehte sich dann schroff um und ging zu seinem Pfeifenständer.

«Urlaub? Kaum gekommen und schon Urlaub?«sagte er über die Schulter hinweg und suchte dabei mit pedantischer Genauigkeit eine hellbraun angerauchte Tonpfeife aus dem Ständer.»Urlaub muß erarbeitet werden, Herr Provisor!«

Otto Heinrich fühlte, wie in ihm eine maßlose Wut aufstieg. Er hätte zu diesem Mann hinstürzen und ihn würgen können, bis sich die gelben Augäpfel verdrehten und das faltige Kinn schlaff herunterfiel. Aber er legte die rechte Hand nur um eine Stuhllehne, preßte sie und antwortete mit leiser, in der Erregung belegter Stimme.

«Herr Prinzipal — ich glaube meine Pflicht bisher erfüllt zu haben! Ich sähe sonst keine Berechtigung, Provisor zu sein, und bitte Sie, den Titel zurückzunehmen!«

Als habe ihn jemand gestochen, so wild fuhr der Apotheker herum und trat auf Otto Heinrich zu.

«Sie!«schrie er, und sein Gesicht wurde gelb.»Sie Lümmel! Ist das der Dank?! Den jüngsten Laffen mache ich zum ersten Mann, den Giftschrank geb' ich ihm — ich dulde, daß er meiner Tochter Blicke zuwirft, die zur Kündigung reichen«- Kummer erbleichte und klammerte sich fester an den Stuhl —,»und da kommt dieser Flegel und sagt mir ins Gesicht, daß ich ein Idiot sei!«Kummer hob die Hand, doch Knackfuß wehrte ihn mit beiden Armen ab.»Schweigen Sie! Ich sage Idiot! Daß Sie es von mir denken, weiß ich schon seit langem! Sie handelten an mir und meinem Hause wie ein Schuft — «

«Herr Knackfuß!«Otto Heinrich bebte und ballte beide Fäuste.»Das nehmen Sie zurück!«Und plötzlich schrie er, daß seine helle Stimme bis auf die Straße flatterte.»Das nehmen Sie zurück — oder… oder… ich fordere Sie!«

«Nichts nehme ich zurück!«Der Alte keuchte, als würde er gleich unter einer schweren Last zusammenbrechen.»Nichts, nichts, gar nichts! Sie sind ein Lümmel, ein Flegel, ein verzogener Laffe, ein Rotzkerl!«

In Otto Heinrich rang die Wut mit der Vernunft. Er trat dicht vor den Apotheker heran, so dicht, daß des Alten Atem über sein Gesicht zog, und sagte leise, aber scharf, daß es Knackfuß wie eine Schneide durch das Herz ging:»Ich könnte Sie zu Boden schlagen! Nur weil Sie im Alter meines Vaters sind, geschieht es nicht —!«

Der Apotheker rang nach Luft.»Mir dies.«, röchelte er.»Mir dies. mir. mir. oh. «Er wankte, perlender Schweiß trat ihm plötzlich auf die Stirn, die gelben Augäpfel verdrehten sich schrecklich, zuckend griffen die Hände ins Leere, der Mund stammelte wirr und unverständlich — dann schwankte der ganze Körper, zitterte in den Gliedern, so wie ein Baum mit allen Ästen bebt, ehe er gefällt zu Boden rauscht, die Beine knickten, ein röchelnder Schrei entrang sich den fahlen, bläulich schimmernden Lippen.»Trudel. Tru. «Dann sank der Körper um und fiel in die Arme des erschreckten, sprachlos starrenden Otto Heinrich.

Mit aller Kraft schleifte er den schweren Körper auf das Sofa, bettete den Kopf des Bewußtlosen auf die Kissen, lockerte ihm die Halsbinde und lief dann auf den Flur.

«Trudel!«schrie er.»Trudel!«Und als das Mädchen erstaunt aus ihrem Schlafzimmer trat, mit aufgelösten Haaren, die sie gerade kämmte und die das schmale Gesicht nun wie eine Flut goldener Fäden umgaben, schrie er:»Der Vater. schnell, der Vater!«

Mit einem Schrei eilte das Mädchen an ihm vorbei in das Zimmer. Ihr Kleid, das sich in der Klinke verfing, schloß die Tür.

Unschlüssig stand Kummer vor dem Zimmer, aus dem jetzt das laute Weinen Trudels drang und das Klappern von Schüsseln aus der danebenliegenden Küche.

Er wußte nicht, ob er wieder eintreten und helfen oder sich still entfernen sollte. Schließlich, nach längerem Warten, entschloß er sich zu gehen und stieg nachdenklich zu seiner Kammer empor, nahm Mantel und Hut vom Haken und ging dann hinunter in den tiefverschneiten Garten, über dem in dichten Wolken der Schnee vom Himmel tanzte.

Unruhig wanderte er die nur schwach kenntlichen Wege auf und nieder, bis das Gewicht des Schnees auf seinem Hut und seinen Mantelschultern ihn in die Laube trieb. Dort klopfte er die Flocken ab und sah gedankenlos zu, wie die Kristalle durch die Wärme seiner Hände vergingen, kleiner und kleiner wurden, um als winziger grauschmutziger Wasserfleck zu enden.

Dann lehnte er sich an den in die Erde gerammten Tisch und blickte durch das schmale Hinterfenster in das weiße Geriesel und in die graue Wolkenwand und fühlte sich eins mit der tötenden Schönheit der winterlichen Natur.