Wie lange er so gestanden hatte, wußte er nicht. Er schreckte erst auf, als eine Hand mit leichtem Druck seine Schulter berührte.
Otto Heinrich blickte sich nicht um. Er wußte, daß es Trudels Hand war, doch er scheute sich, in ihre Augen zu blicken, die von den Tränen gerötet und gedunsen sein mußten. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten und kam sich schlecht und elend vor.
«Trudel?«sagte er nur mit leiser Stimme und wunderte sich nicht, daß auf seine Frage keine Antwort kam. Erst nach langem Schweigen sagte sie» Ja «und trat an seine Seite.
«Warum hast du das getan?«fragte sie. Aber die Frage war nicht vorwurfsvoll, traurig, ärgerlich oder hart, sondern weich und streichelnd, als habe sie von einer sehnsuchtsweiten Liebe gesprochen, die nun zu ihr trat und Wirklichkeit des Herzens wurde. Und gerade diese Weichheit des Vorwurfs, dieses liebende Dulden war es, was in Otto Heinrich eine Flamme aufriß, was ihn packte und schüttelte und seine Schuld so furchtbar schwer werden ließ.
Er krampfte die Finger zur Faust und starrte weiter stumm in das Rieseln des Schnees.
«Du hattest mir versprochen, des Vaters Zorn zu schonen«, fuhr Trudel leise fort.»Du weißt, er ist im Herzen gut — und trotzdem triffst du ihn so hart. Otto Heinrich«- das Mädchen stockte und legte zögernd die Hand wieder auf die Schulter Kummers —,»weil du mich liebst, solltest du schweigen.«
«Es ging nicht!«Der Jüngling fuhr herum und preßte die Fäuste an seine Brust.»Wenn du wüßtest, wie er mich quält, tagaus, tagein, stündlich, schon wenn er mich sieht — in der Apotheke, bei Tisch, im Kontor, überall — immer diese spitzen Reden, unberechtigte Schelte, Mißtrauen, Härte, Spott — alle Register menschlicher Quälsucht wendet er an, um mich zu treffen, mich zu erniedrigen, mir zu zeigen, daß ich ein Haufen Unrat bin. Dreck, sagte er einmal — ein Häufchen Dreck sind Sie, auf den die Sonne scheint und mildtätig vergoldet. Das soll ich mir gefallen lassen? Tagelang, wochenlang — vielleicht auch noch Jahre? Immer Qual, immer getreten werden, immer das Bewußtsein: Wenn du jetzt ins Laboratorium trittst, steht er da und brüllt dich an! Brüllt, viehisch, unmenschlich. Ich ertrage das nicht länger — ich werde noch irr in dieser Luft des Hasses. Ich mache Schluß wie Bendler.«
«Liebster. «Trudel sah ihn mit großen Augen an und zitterte.»Liebster. denke doch auch an mich.«
«Ich habe daran gedacht! Vielleicht zu oft, und ich bückte mich vor Tritten, wo ich eigentlich hätte widertreten müssen! Aber ein-mal steht auch der stärkste Mensch an seiner Grenze. Da geht es nicht mehr, Trudel, da mußt du durchbrechen… da bist du wie ein Tier, das man hetzt und hetzt und in der Falle noch quält.da beißt du um dich und vergißt, daß du einmal ein Versprechen gabst, das aber unhaltbar ist, solange du noch fühlst und Ehre hast!«
Er schwieg einen Augenblick und atmete schwer, vermied es aber noch immer, in Trudels Augen zu schauen.
«Als ich dann vor ihm stand, um Urlaub nach Dresden bat, als er dann meine Arbeit schmähte und mich zum Tollen reizte, da warst du nicht mehr da, nicht mehr in den Gedanken, nicht mehr im Gefühl, nur tief im Herzen — und dort schwiegst du, ergriffen von der Einsamkeit, die du dort fandest. Ich aber schrie meinen Haß und meine Wahrheit dem Peiniger ins Gesicht. Als er dann umsank, war ich zuerst entsetzt, dann rief ich dich. ich fühlte nur den einen Wunsch: Heraus aus dieser Hölle!«
Er schwieg und blickte auf den gefrorenen Boden. Das Mädchen, das ihn bei seiner Beichte unverwandt angesehen hatte, senkte nun den Kopf, bis er auf seinen Schultern lag und die goldgelben Strähnen ihres Haares an seiner Wange und seinem Nacken kitzelten.
Ein leises Schluchzen erschütterte ihren Körper.
«Und kaum, daß er aus seinem Anfall erwachte, ging er ins Kontor und schrieb in das Kassenbuch deine Reisekosten und ein Extragehalt für das Fest ein«, weinte sie leise.
Otto Heinrich fuhr herum und fing das Mädchen auf, das durch den plötzlichen Ruck ins Wanken geraten war.»Was tat er?«stotterte er und schob die Linke unter Trudels Kinn, ihr den Kopf hochhebend.»Er läßt mich nach Dresden fahren?!«
«Er hat eine gute Seele«, schluchzte das Mädchen.»Oh, warum versteht ihr ihn alle nicht und haßt ihn, weil er sich seiner Güte schämt und hart ist?! Und du, gerade du. «Sie weinte auf und verbarg das tränennasse Gesicht in ihren blaurotgefrorenen Händen.
«Wie konnte ich das wissen«, stammelte Otto Heinrich.»Er nannte mich einen Flegel, einen Rotzkerl, einen Schuft.«
«Liebster.«»Ja, einen Schuft auch! Da konnte ich nicht schweigen, da durfte ich nicht, wenn mir der Name meines Vaters, den ich trage, heilig ist! Ich hätte ihn ermorden können, ich war in diesem Augenblick zu allem fähig, ich… ich. Trudel, ich weiß nicht mehr, was Unrecht oder Recht ist, wenn man liebt und gleichzeitig wie ein Hund gehetzt wird.«
Er blickte aus dem Fenster und drückte das Mädchen fest an seine Brust. Als er spürte, wie sie vor Kälte zitterte, öffnete er seinen Mantel, schlug ihn um den schmalen Mädchenkörper und preßte ihn eng an sich, rieb ihre Hände und hauchte sie an, küßte ihre Wimpern, an denen die leicht gefrorenen Tränen leise knisterten, und drückte dann auch den Kopf an sich, das ganze zarte Geschöpf in seinen weiten Mantel hüllend.
Draußen rieselte unentwegt der Schnee.
Tief eingeschneit lag die Laube inmitten der Tannen, denen die Schneelast die Zweige zur Erde bog. Die Wege waren unkenntlich, eine große, weiße Fläche war der Garten, und nur der fahle Schein, den der Schnee zurückwarf, erhellte die lautlose Nacht.
Die Lichter in den Nachbarhäusern waren längst erloschen. Eine klirrende Kälte kroch in die einsame, zugeschneite Laube.
Eng umschlungen standen die Liebenden.
Sie froren und zitterten.
Doch sie wagten nicht, hinaus durch den Schnee in das Haus zu gehen, denn diese Hütte war ihr Reich, wo niemand von der lauten Welt sie störte und wo die Herzen fühlen durften, was ewig ist und göttlich groß wie das Wunder der weißen, lautlosen Flocken, die sie umspielten.
«Ich habe dich lieb«, sagte Trudel nach langem Schweigen.»Es ist so schwer zu lieben.«
Otto Heinrich streichelte ihr über die eisigen Wangen.
«Frierst du, Liebste? Du sollst nicht zittern, in meinen Armen nicht — nicht vor Frost und nicht vor Angst. «Er preßte sie so fest an sich, daß sie leise aufschrie und nach Atem rang.»Verzeih«, stammelte er.»Alles, was ich mache, ist voll Schmerz und Unrecht. Ich bin ein Mensch, der Unglück bringt und Tränen.«
«Du bist ein großes, großes Kind.«, flüsterte das Mädchen und schmiegte sich in seine Arme.»Ein Kind, Liebster, ungezogen, unüberlegt — und lieb, so lieb.«
Sie küßten sich und schwiegen dann, schauten auf die stummen, tanzenden Flocken, auf die weißen Tannen und die Schatten der Häuser.
Und sie froren nicht mehr. sie waren zu glücklich, um Kälte zu spüren. Unwirklich wurde die Welt, in einem Nebel von Glück versank die Besinnung auf Erde und Mensch. sie waren nur Ich und Du. nur Wir. nur eins im Taumel der Seligkeit.
Doch ihre Körper standen und zitterten vor Frost. standen in einer Laube, deren Dach sich unter der Decke des Schnees bog und die in einer Flut wirbelnder Flocken versank.
Langsam schneite die Laube zu, und der Vorhang des Schnees wurde dichter.
Wie ein Geheimnis dehnte sich die Nacht.
Nur einmal drang ein schwacher Laut in diese Stille. Ein Tannenzweig, plötzlich vom abgerutschten Schnee befreit, schnellte empor.
Doch lautlos, ohne Pause, rieselte der Schnee. tänzelte und schwebte. in dicken Flocken, eng aneinandergereiht. lautlos. ständig. Schnee. endloser Schnee.
Das Weihnachtsfest in Dresden ging schnell vorbei. Otto Heinrich traf das große Haus in der äußeren Rampschen Gasse im festlichen Schmuck an, duftend nach Tannen, frischem Gebäck und gebratenem Fleisch, er fand seine kleine Schwester Anna Luise voll seliger Erwartung auf das kleine Wunder der Weihnacht und den Bruder Johannes Benno gerüstet, eine große und feierliche Hausandacht zu halten, nur der Vater ging bedrückt umher, zwang sich zu einer sauren Fröhlichkeit und bemühte sich nach Kräften, der Mutter nicht das schöne Fest in Galle zu verwandeln.