Выбрать главу

Die kleinen Fenster zu beiden Seiten der Kutsche waren von innen verhängt. Auf dem Bock saß der Postillion im dicken Pelz und fluchte.

Weiß wehte aus den Nüstern der Pferde der Atem in die Kälte.

Als die Kutsche in die Nebenstraße einbog, um dann mit verstärktem Trab in die Wälder zu fahren, hatte niemand in der Kutsche noch der Postillion bemerkt, wie sich aus dem Gebüsch an der Kreuzung eine Gestalt löste, wieselschnell an die Rückwand der Post sprang, sich an einer der langen gebogenen Gepäckstangen festklammerte und ein Stück mitlief, ehe sie sich an einigen Schnürriemen emporzog und auf den Proviantkasten dicht unter das schmale Rückfenster setzte.

Bekleidet mit einem weiten Mantel und einem tief ins Gesicht gedrückten, breiten Schlapphut, saß die Gestalt schwarz und in sich zusammengezogen über den schwankenden Rädern. Durch die dünne Holzwand hörte sie das Hüsteln der Reisenden, lächelte bei einem saftigen Fluch des Postillions und schnalzte mit der Zunge mit, wenn die Peitsche klatschend über die zitternden Pferderücken zischte.

«Monsieur«, sagte plötzlich eine Dame zu ihrem Nachbarn und richtete sich ein wenig auf.»Mir war es, als habe sich draußen an der Hinterwand etwas geregt! Mon Dieu — es gibt hier doch keine Räuber?«»Es ist der Wind«, murmelte ihr Begleiter verschlafen.»Der Wind, Madame. Räuber. «Er gähnte laut.»Räuber gibt's hier nicht.«

Nach wenigen Augenblicken schlief er weiter.

«Ich gehe nicht davon ab: es rührt sich etwas an der Rückwand«, flüsterte die Dame nach einer Weile.»Eben war es wieder! Haben Sie es auch gehört?«

Otto Heinrich, der vor sich hinbrütend angestoßen wurde, schreckte auf.

«Wie bitte?«stotterte er.»Was sagten Sie, Madame?«

«Draußen an der Rückwand rührt sich etwas!«

«So lassen Sie doch den Postillion halten.«

Die Dame zögerte.»Ich kann mich auch verhört haben.«

«Bestimmt, Madame, bestimmt.«

Die Kutsche klapperte weiter durch die eisige Nacht.

Auf dem Proviantkasten kauerte noch immer die schwarze Gestalt.

Sie kicherte und räkelte sich auf dem breiten Sitz. Sogar eine Pfeife rauchte sie und verdeckte den glimmenden Schein des Tabaks mit der Hand.

Erst als das Morgengrauen über die Wälder stieg und der bleierne Himmel fahl und bedrückend wurde, sprang die Gestalt mit einem weiten Satz vom Wagen auf die glatte Straße, sah der Kutsche nach, bis sie um eine Wegbiegung verschwand, und eilte dann quer durch den Wald, bis sie im Unterholz verschwand.

Nur einmal blieb der stumme Gast stehen, kurz nachdem er von der Kutsche sprang, und nahm den breiten Schlapphut ab, sich über die Haare streichend.

Es war Willi Bendler.

Schon als Kind hatte Willi Bendler gute Augen. Und er war stolz darauf gewesen, wenn sein Vater sagte:»Der sieht wie eine Katze «und ihn aus der ganzen Geschwisterschar auswählte, bei Nacht das Feuerholz aus dem Schuppen zu holen.

Nun aber.

Kein Hauch Licht. Sterne und Mond verbargen sich hinter einer schweren Wolkendecke. Und der Hang hier nichts als schwarzes Un-terholz.

Willi Bendler fluchte, schob einen Zweig aus dem Gesicht, überlegte es sich, rannte in langen Sprüngen zur Straße zurück. Die Kurve, ja, das war die Stelle. Gleich dahinter mündete der Ziehweg, der zur Köhlerhütte führte. Aber hier war kein Durchkommen. Er ging weiter. Eine Tannenschonung. Dann versanken die Füße bis zu den Schäften der Stiefel im Laub, und schließlich tauchten wieder schwarz wie Scherenschnitte große Bäume aus dem Dunkel auf, der Himmel wurde lichter — ja, da mußte der Weg sein. Und da war er auch.

Bendler reckte sich zu seiner ganzen Größe, legte die Hände an den Mund:»Uuiuu!«Nochmals. Der Ruf des Käuzchens.

Er legte den Kopf schräg. Nichts.

Vielleicht waren sie noch zu weit weg?

Er ging nochmals zwei-, dreihundert Meter bergan und versuchte es wieder.

Und diesmal kam die Antwort. Ein einsamer, hohler Käuzchenruf. Dreimal.

Na also! Es dauerte nur wenige Minuten, bis er festen Boden unter den Sohlen seiner Stiefel spürte: der Ziehweg.

Bendler, der Riese, ging bergan, so kraftvoll, wie nur er das konnte, und verharrte erst, als eine Männerstimme seinen Namen rief.

«Willi! — Bist du's, Willi?«

Hans, einer der beiden Gera-Vettern. - Bist du's, Willi? — Hatte er diesen Eseln nicht eingeschärft, stets und unter allen Umständen das Losungswort zu benutzen. >Aurora< lautete es in dieser Woche. Wahrscheinlich hatten sie's schon wieder vergessen.

«Gott sei Dank! Da bist du ja, Willi.«

Ein Schatten tauchte vor ihm auf.

Bendler schluckte den Groll hinunter, tätschelte Hans Hilperts Schulter, wollte jetzt keinen Streit, auch keine Auseinandersetzung um Losungsworte — einen Schluck Schnaps wollte er, besser wäre noch Wein, ein Stück Brot und Speck dazu, nach der ganzen aufregenden Fahrt als blinder Kutschen-Passagier knurrte ihm der Magen.

Die Köhlerhütte war aus rohen, mit Lehm verfugten Tannenstämmen zusammengefugt. Drinnen hatten sie ein Feuer angefacht. Durch die geöffnete Tür konnte er den Flammenschein erkennen. Nun ja, so bedenklich war das nicht. In diesen abgelegenen Teil des Thüringer Waldes wagte sich bei Nacht niemand. Schon gar nicht eine Streife der königlich sächsischen Gendarmerie.

Er mußte den Kopf mächtig einziehen und dabei gleichzeitig in die Knie gehen, um die Hüttentür zu passieren.

Und dort empfing ihn Lärm, Geschrei und Lachen. Sie waren alle aufgesprungen, nur Sottka blieb am Tisch sitzen: klein und gekrümmt, den dreckigen, längst verspeckten Zylinder mit der zerrissenen Krempe wie immer auf dem Kopf. Joseph Hilpert, Student wie Hans, umarmte ihn. Die vertrauten Gesichter. Augen, in denen die Erleichterung lag, den Anführer wieder bei sich zu wissen.»Was ist, Willi? Wie war es?«

«Erzähl' ich noch. Jetzt kann ich nicht. Mein Magen knurrt lauter als meine Stimme. Hört ihr ihn nicht? Gebt mir Futter.«

Joseph hatte schon das Messer und den Brotlaib in der Hand. Otto, den sie >Frosch< nannten, seit er mit einem gewaltigen Sprung von der Rodach-Brücke der Eskorte entwich, die ihn ins Polizeigefängnis nach Coburg bringen wollte, schnitt ein Stück Käse ab.

«Speck habt ihr keinen?«

«Bedauerlicherweise nicht, Eure Exzellenz«, ließ sich Sottka vernehmen. Er lüpfte den Zylinder und zog ihn in einem höfisch-eleganten Halbbogen über den Kopf.»Aber falls Euer Hochwohlgeboren mit unserem bescheidenen Mahl nicht vorliebnehmen.«

«Hör auf mit dem Mist!«sagte Bendler, schlug die Zähne in das Brot und kaute. Und dann warf er einen seiner langen dunklen Blicke zu der kleinen Gestalt dort am Tisch. Sottka versuchte dem Blick zu begegnen. Die runden Brillengläser funkelten. Doch Willi Bendler wandte sich ab. Seit jener Nacht in der fernen Mark Brandenburg konnte er den Kerl einfach nicht mehr sehen, seit jener Nacht, als er mitansehen mußte, wie Sottka, den er stets für einen jener verschrobenen Intellektuellen gehalten hatte, die sich seit den Zensur-und Knebel-Gesetzen zu Dutzenden in den Reihen der Freischärler finden ließen, kaltblütig mit dem Dolch einen Gefangenen tötete. Und dieser Gefangene war dazu noch eine Frau. Sie mochte die Strafe verdient haben, gewiß, deshalb sollte sie ja auch zum Beweis der deutschen Gesinnung der Freischar-Bewegung den Behörden übergeben werden — aber doch gefangen übergeben! Gefangen und lebendig. Nicht ermordet.

In dieser Nacht hätte er beinahe selbst Schuld auf sich geladen und Sottka erwürgt. Nur den anderen war es zu verdanken, daß er noch lebte, ihrer Freundschaft, nicht ihrem Argument:»Sie hätte uns verraten, wie sie jeden verraten hat. Es war besser so.«