Nein, es war nicht besser so. Sottka hatte ein Kains-Mal gesetzt. Und darunter würden sie als Bruderschaft ewig leiden. Auch wenn ihnen die Flucht nach Böhmen gelang. Die Folgen waren schlimm genug. Er mußte das Korps auflösen. Nur als einzelne Gruppen hatten sie die Chance, der Polizeiverfolgung zu entkommen.
Doch dies war nicht die Zeit für solche Gedanken.
Bendler las die Zeit von seiner Taschenuhr: kurz vor Mitternacht. Es gab keine Überlegung und keine Diskussion: sie brauchten das verdammte Schießpulver. Letzten Dienstag, vor beinahe einer Woche, beim Übergang über die Elster war Hans, der den Pulvervorrat im Tornister trug, auf einem glatten Stein gerutscht und ins Wasser gefallen. So hatten sie die ganze Reserve bis auf die Füllung von zwei Pulverhörnern verloren.
Mit zwei Pulverhörnern nach Böhmen?!
Ausgeschlossen. Auch die anderen brauchten Nachschub.
Doch soweit würde es nicht kommen.
Der Militärtransport für das Mineur-Detachement in Frankenberg war seit einem Tag unterwegs. Er würde um Mittag in der Stadt eintreffen. Bendler hatte es aus einem Dragoner-Unteroffizier herausgekitzelt, den er an einer Wegschenke bei Weida getroffen und betrunken gemacht hatte.
Um Mittag. Das hieß, daß sie kurz vor sieben hier durchkommen mußten. Also bei Morgengrauen. Ein guter Zeitpunkt. Dann waren Kutscher und Begleiter von der Nacht schon so zermürbt, daß sie nicht bemerken würden, was auf sie wartete. Und wenn sie es merkten, war's ohnehin zu spät.
Noch einmal überprüfte Willi Bendler den Sitz des Seils. Er hatte es am schenkeldicken Ast der Eiche verknotet, die am gegenüberliegenden Hang hochwuchs.
Nun tarnte er es mit abgeschnittenen Zweigen.
Hans, der ältere der beiden Studenten-Vettern aus Gera, kletterte noch einmal rasch wie ein Affe den Baum hoch, schwang sich wieder auf den Weg, lachte.
«Na, denen rasieren wie die Hüte ab, was, Willi?«
Bendler nickte. Den Jungen mochte er. Als Student der beste auf dem Paukboden, hatten sie gesagt. Außerdem gehörte er der JahnBewegung an, war gewandt wie ein Panther, ließ sich nie Angst anmerken und blieb immer guter Laune, selbst wenn es noch so übel aussah.
Der Weg war nun nichts als ein graues Band.
Der Wald verhielt noch im Dunkel. Weiter oben aber, wo die Kurve auslief und das Gefälle begann und sich Felder zogen und Büsche, hatte der Himmel sich aufgehellt. Schon waren die ersten Vogelrufe zu vernehmen. Und der Mond hing als blasse Sichel in einem grünen Himmel.
Sie würden kommen. Bald sogar. - Falls seine Rechnung aufging.
Bendler bückte sich, scharrte einen Armvoll Laub zusammen und streute ihn über das Seil am Boden.
Dann verkrochen sie sich wieder in der Deckung, kauerten hinter Stämmen und Büschen. Jetzt sprach keiner mehr, jeder wußte, was zu tun war.
Bendler zog die Pistole. Beinahe zärtlich streichelte er den Knauf und die vertraute Rundung des Griffs. Die Kugeln steckten im Lauf.
Er spannte die beiden Hähne, prüfte die Zündhütchen. Auch die beiden Gera-Vettern machten die Waffen schußbereit. Weiter oben, in der Schonung, kauerte der >Frosch< hinter einem Haufen Bruchholz. Er hatte das Grenadier-Gewehr.»Nur im Notfall schießen!«hatte Bendler ihm eingeschärft.
Sieben Uhr zehn. Nun konnte er die Ziffern seiner Uhr schon ganz deutlich lesen. Die Zeiger schienen festgeschraubt.
Irgendwo schrie eine Krähe. Und nun wieder ein Vogelruf. Es klang wie eine Warnung.
Der milchige Schleier über den Feldern hatte sich aufgelöst und einem klaren Blau Platz gemacht.
Und dann hörten sie es: das gleichmäßige Schlagen von Hufen, Räderpoltern, das metallische Klacken, das entsteht, wenn stählerne Radbänder auf harte Steine treffen.
«Sie kommen.«
Hans war es, der es flüsterte, und Bendler hob die Hand. Eine unnötige Geste. Jeder wußte, was er zu tun hatte.
Hans Hilpert war der einzige, der sich aus der Kauerstellung hochschob. Eng an einen Stamm gepreßt, hielt er das Seilende. Sobald es soweit war, würde er das schwere Hanfseil blitzschnell anspannen und um das Aststück schlingen. In angespanntem Zustand mußte es Kutscher wie Reiter abwerfen. Sie hatten es zuvor genau ausgemessen.
Bendler hielt den Atem an.
Das Hufeklappern änderte sich, wurde schneller. Das, was er erwartet hatte, war eingetreten: der Kutscher nützte den leicht abfallenden Hang. Statt zu bremsen, versetzte er die Pferde in einen raschen Trab. - Na, um so besser!
Zwei Lichter.
Wegen des Waldesdunkels waren die Laternen noch nicht gelöscht.
Bendler stand auf: ein Schatten unter anderen Waldesschatten.
Noch vierzig, dreißig, zwanzig Meter. Und nun sah er sie, sah alles ganz genau, jedes Detaiclass="underline" das Blinken an den Tschakos der beiden Reiter, die die unförmige Militärkarosse begleiteten, die weißen
Dragoner-Aufschläge an den Uniformen — den Kutscher. Auch er ein Soldat. Hochaufgerichtet saß er, während die Dragoner, erschöpft vom Nachtritt, wie schwankende Puppen in ihren Sätteln hingen und die Pferde allein ihren Weg suchen ließen.
Na, die werden wir gleich wecken.
Hans' Zähne blitzten. Die Anspannung hatte ihm die Lippen hochgezogen. Die Faust griff zum Seil.
«Jetzt!«rief Bendler.
Ja, jetzt.
Was nun folgte, mischte sich zu einem kaleidoskopartigen Wirbel von Eindrücken und Geräuschen: Schatten, die schreiend durch die Dämmerung flogen. Flüche. Das Wiehern sich aufbäumender Pferde, das Donnern der Hufe, als die Tiere in Panik die Hangstraße hinabrasten. Die Kutsche dort — führungslos. Das Deichselpferd schien sich im Geschirr verfangen zu haben, brach nach vorne in die Knie. Und da kippte der Wagen um, rutschte über die Steine, blieb an einem Baum hängen.
Um so besser.
Bendler sprang.
Und nun war er wieder der >Riese Bendler<, ein gewaltiger, Unheil verkündender schwarzer Schatten, der sich wie ein Geist aus der Dämmerung erhob, einen der beiden Dragoner, der sich gerade fluchend aus dem Staub hochgerappelt hatte, mit einem einzigen Faustschlag zurück auf die Straße schleuderte; so mächtig, mit solcher Hammergewalt geführt war der Hieb, daß der Mann zuckend liegenblieb.
Und da war der zweite, war schon hoch, wollte den Säbel ziehen.
Doch dazu kam er nicht mehr.
Willi Bendler wirbelte herum. Das rechte Bein holte aus, die Fußspitze traf genau den Magen und warf den Mann gegen die Böschung. Hustend, nach Luft schnappend, sackte er zusammen.
Was war mit dem Kutscher? — Ah, dort! Und die Hände hatte er über dem Kopf. Und vor sich Hans' Pistole.
Willi Bendler beugte sich über den Dragoner. Er hing zwischen den Wurzeln und hatte noch immer beide Hände gegen seinen Magen gepreßt. Jetzt drehte er den Kopf. Die Augen wurden weit.
«Na, wie geht's denn, Gevatter?«
«Ihr seid es.?«
«Aber natürlich.«
Bendler grinste freundlich, beruhigend. Zufälle gab es. Er hatte den Unteroffizier sofort erkannt. Der Sergeant war der Mann, den er in der Kneipe so mit Wein vollgeschüttet hatte, daß er ihm den Transport verriet. Daß er selbst mitreiten würde, das allerdings hatte er verschwiegen.
«Mein Magen.«
«Bin nicht ich«, grinste Bendler,»das ist der Wein. Werd' den erst mal los, dann wird's dir besser. Komm, ich helf dir.«
Er packte den dicken Unteroffizier an seinem Uniformkragen und drückte ihn nach vorne, mit dem Gesicht zum Laub.»Spuck's aus, Gevatter! Dann wird dir besser.«
Vielleicht war soviel christliche Fürsorge nun doch ein Fehler. Der erste der beiden Soldaten war wieder auf den Beinen. Der gab nicht auf. Und weiß der Teufel, eine Pistole hat er in der Hand.!
Das Gesicht war jung, ein Bauerngesicht mit unruhig flackernden Augen. Doch die beiden anderen Augen, die schwarzen, kreisrunden Mündungen der Pistolenläufe blieben ruhig. Und beide waren sie auf Bendlers Brust gerichtet.
Bendler holte Atem. Die Luft war so kühl. Dort drüben das Pferd. Es schnaubte, wieherte unterdrückt. - Es hatte Angst.