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Noch einmal drückte er dem Freund durch das Fenster die Hand, lief ein Stück nebenher und blieb dann mitten auf dem Markt stehen und winkte.

Als der Wagen um die nächste Ecke bog, ging er gesenkten Hauptes zur Apotheke zurück. Die Blicke der tuschelnden Frauen am Brunnen folgten ihm.

Langsam öffnete er die Tür und trat ein.

Im Flur stand zornrot und bebend Knackfuß.

Und ohne ein Wort ging Kummer an ihm vorbei in das Laboratorium.

Die Antwort Otto Heinrichs, er verweigere die Aussage in Sachen seines Vaters, war ein Dorn in der Seele Knackfuß'. Nicht wissend, daß die Aufnahme des Protokolls nur eine Komödie des Herrn von Seditz war, der seiner Nachricht an Kummer einen für den Apotheker gewichtigen Rahmen geben wollte, trat er von diesem Tage an immer auf dieser Verweigerung herum und nannte seinen Provisor ehrlos, einen Schandbuben und einen Menschen, der Meineide schwört, wie man Butterbrote ißt.

Otto Heinrich dagegen antwortete mit der dringlichen Forderung, die Suche nach einem neuen Provisor zu beschleunigen, da es ihm unmöglich sei, neben einem zänkischen und tyrannischen Kracher — er sagte wirklich Kracher und brachte Knackfuß damit an den Rand eines Schlaganfalls — zu leben und erst recht zu arbeiten.

So zankten sich die beiden zum Gaudium der anderen Apothekergesellen durch die Tage, vergällten sich die Abende durch böse

Worte und schlossen ihre Herzen gegen alles ab, was von außen her an sie herandrang.

Von Trudel hatte Otto Heinrich seit der gewaltsamen Trennung nichts mehr gehört. Wohl ging er ab und zu des Abends in die Laube und träumte von dem kurzen Glück, lauschte wohl auch auf das zarte Spinettspiel der Bürgermeistertochter Marie und dachte an das Gespräch, das er vor Monaten dabei mit Willi Bendler geführt hatte — aber den größten Teil seiner Freizeit und der Abende saß er hinter der Tranlampe oben in seiner Kammer, hatte den Tisch nahe an den Ofen gerückt und schrieb die halbe Nacht hindurch an einem kleinen Buch voll Gedichten. Er hatte es gleich nach seiner Rückkehr aus Dresden im Januar begonnen und nannte es >Vermischte Kleinigkeiten<, eine kleine Sammlung lyrischer und philosophischer Gedichte, ab und zu auch eine scharfe Satire — aber die Mehrzahl der Verse atmeten den Eishauch seines einsamen Herzens und die ungestillte Sehnsucht nach Licht, Luft und Freiheit seiner gequälten und getretenen Seele.

Wenn er dann erschöpft den Gänsekiel in den Halter steckte, sich reckte und die brennenden Augen rieb, war es meist der Weg durch den nächtlichen Garten, der seinen müden Körper erfrischte. Die Kälte des Schnees, mit dem er oft sein heißes Gesicht rieb, die Stille, die alles umgab, und nur das leise Knirschen seiner Schritte belebten ihn neu und senkten ihm Ruhe in die aufgewühlten Gedanken.

So war es auch in dieser Nacht vom 7. zum 8. Februar 1835.

Otto Heinrich, der die Enge seiner Kammer verlassen hatte und den Kopf mit den noch ungeborenen, verwirrten Versen kühlen wollte, schritt langsam zu der dunklen Laube und lehnte sich von außen an die morsche Tür.

Ein klarer Himmel zog sich über die Berge. Unübersehbar glitzerten die Sterne, die Milchstraße spannte sich in weitem Bogen über bewaldete Kuppen. Klirrender Frost krachte in den Hölzern der Bäume.

«Eine schöne Nacht«, murmelte Kummer und schaute in den Himmel.»Eine Märchennacht, wenn sie zwei Liebende erleben.«

Er stockte, als schmerze ihn der Gedanke. Er fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen, klinkte die Tür der Laube auf und trat ein.

Kaum hatte er den ersten Schritt in die Dunkelheit des Raumes gesetzt, blieb er stehen und lauschte.

Das unerklärliche, prickelnde Gefühl, nicht allein zu sein, kletterte in ihm empor bis zur Kehle.

Er hielt den Atem an und lauschte.

Ein fremder, leiser Atem stand in der Dunkelheit.

«Ist dort jemand?«fragte er mit zugeschnürter Stimme.

«Otto Heinrich?«antwortete ihm ein Flüstern von der Stelle, wo sich die schmale Holzbank hinter den Tisch zog.

Das Flüstern war dunkel. Ein Mädchen war es nicht… der sekundenschnelle Gedanke, es könnte Trudel sein, verflog.

Otto Heinrich tastete sich bis zum Tisch vor und versuchte aus der Dunkelheit einen Schatten herauszuschälen.

«Wer bist du?«fragte er ein wenig sicherer.»Maltitz?«

«Nein. - Willi Bendler!«

«Bendler!«

Otto Heinrich rief es laut und stürzte nach vorn dem Freund in die Arme.

«Pssst!«Bendler drückte Kummer an seine Riesenbrust und hielt ihn dann von sich ab.»Nicht so laut, mein Freund. Ich bin vogelfrei — juchhe —, ein jeder kann mich abknallen und bekommt für diesen Mord auch noch Dukaten!«

Er schwieg und setzte sich auf die Bank. Otto Heinrich lehnte sich vor ihm an den Tisch.

«Wie gefällt es dir in der Freiheit, Bendler?«fragte er langsam.

«Wie ein Hirsch in der Brunst! Nur sollten die Jäger das Jagdverbot erhalten. Du wirst durch Seditz schon gehört haben, was ich treibe!«

«Du hast meinen Vater gerettet.«

«Ungewollt.«

«Wenn auch — ich stehe tief in deiner Schuld! Du hast mit der Spionin ein gutes Werk getan.«

Der Riese neigte den schweren Kopf. Er fuhr sich über das Kinn, und das Kratzen verriet, daß er seit Tagen unrasiert war.

«Ob gut oder nicht gut — man kennt meine Spur! In Preußen war es heiß, nach Bayern will ich nicht — dort sind die Bäume so hoch —, und in Sachsen trifft mich das neue Friedensgesetz des Königs! Was tun? sprach Zeus! Ich wandere des Nachts und schlafe am Tage unter dem Stroh in den Scheunen und fange mir in Schlingen das Wild, um etwas zwischen den Zähnen zu haben. Ein Leben, bester Freund, das Schiller gekannt haben mußte, als er seine >Räuber< schrieb. Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne. dieser Idealist! Aber was rede ich — seit Stunden sitze ich hier wie ein Huhn auf der Stange und warte auf dich. Ich wußte, daß du kommst, denn ich beobachtete dich seit zwei Tagen. Gehst des Nachts in den Garten und starrst in die Sterne! — Großer Weltschmerz, mein Freund?«

Otto Heinrich schüttelte den Kopf.

«Hui!«Bendler pfiff durch die Zähne und reckte sich.»Hat man dir endlich doch den Ast, auf dem du sitzt, abgesägt? Ist aus dem Träumer endlich der Logiker geworden?«

«Man kann schlecht sagen, was man fühlt. «Kummer steckte die bloßen Hände in die Manteltaschen. Er fror.»Ich weiß nur eins: ich lebe ohne Sinn!«

«Bravo! Die Töne liebe ich! Auch wenn es falsche Töne sind, denn selbst der Unsinn hat noch einen gewissen Sinn. Das Leben aber ist nicht sinnlos — die Menschen, die mit dem Leben nichts anzufangen wissen, machen es zum Unsinn! In Wahrheit aber, das glaube mir, leben wir nach Gesetzen, die weder Kaiser noch Papst regieren können. Unser tiefstes und strengstes Gesetz ist die Natur. Das merkst du erst, wenn du wie ich mit dem Winde läufst.«

Bendler schwieg. Auch Otto Heinrich gab keine Antwort. Plötzlich, nach einigen Minuten Schweigen, fragte er:»Wo ist deine Freischar, Bendler?«

«In alle Richtungen zerblasen!«Der Riese hieb mit der Faust auf den Tisch.»Nach dem Affärchen mit der Vera aus Moskau hat man die Hunde auf uns gehetzt! Da sagte ich zu meinen Kerlen: Jungs, ab in die Wälder und hinein nach Böhmen! Sie werden jetzt wohl noch dort sein und auf mich warten. Aber ich wollte noch einmal mit dir sprechen, Heinrich, und sehen, ob du zu uns gehörst!«

«Zu euch? Wie meinst du das?«

«So, wie es klingt! Komm mit und sei frei wie die Lerche unter der Sonne.«

Otto Heinrich zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete.

«Es geht nicht, Bendler«, sagte er.»Ich bin nicht feig — nein, denke das nicht von mir —, aber ich scheue das Blut! Ich mag nicht die Freiheit lieben mit der Pistole in der Faust, ich kann nicht morden, um zu leben.«

«Morden?«Die Frage Bendlers war lang und gedehnt.