Er sah seine Gespielen wieder, den kleinen Grafen von Don-nersmarck, den Baron von Puttkammer und den Baron de Lou-mierais, er sah die goldene Hofkutsche wieder durch das breite Tor ziehen, die Wache unter das Gewehr treten und hörte ganz deutlich das Fanfarensignal, wenn die Königskutsche in den Schloßhof einfuhr.
Die hohe Kuppel der Frauenkirche glomm aus dem Dunst des Septembertages hervor, die mächtige Kuppel, in die ein französisches Geschütz eine Kugel jagte und die im Steine haften blieb.
Otto Heinrich Kummer schloß die Augen.
Die Mundwinkel zuckten leicht, die Lider zitterten, und die Flügel der schmalen Nase bebten.
Und mit einer jähen Bewegung drehte sich der Jüngling auf den Bauch, vergrub den Kopf zwischen seine Arme und lag so, stumm, ohne sich zu rühren, wie ein Toter, bis aus dem Tal die Kirchenuhr die mittägliche Stunde schlug und einen fremden hellen Ton in diese herbstlich trübe Stille trug.
Bisweilen schnitt die Erinnerung wie mit Messern in sein Bewußtsein, nie jedoch vermochte er sie abzuschütteln, sie war der Schatten, der ihn überall begleitete — die Erinnerung an die Nacht vor zwei Jahren.
Mit Fehlin zusammen, dem dicken, blonden Fehlin, seinem liebsten Studienfreund, war er Elbaufwärts zum alten Fährhaus geschritten, wo an diesem Abend die Versammlung des Bundes stattfinden sollte. Drei Tage vor dem Geburtstag seiner Mutter war es. Vierzehnter Oktober.
Und welche Nacht!
Die Türme der Stadt wie aus Silber gegossen. Ein Licht, wie aus den unendlichen Weiten des Alls herangeweht, ein transparentes Leuchten, das selbst die Schatten der Bäume auf den Weg zeichnete, so klar und stark, daß die Lichter der Kutschen und Laternen, die sich langsam über die Brücke bewegten, gelb und trübe wirkten.
Otto Heinrich sog die kühle Luft in sich ein, lauschte den Worten, die in ihm wach wurden, er mußte sprechen, ehe sie ihm die Brust sprengten, sie wollten hinaus, in den Abend würde er sie schreien, dem Winde mitgeben. Welche Verse!
Otto Heinrich Kummer drehte eine Pirouette, rannte Fehlin voraus, warf die Hände zu diesem Mond, der dort über allem unbeteiligt am Himmel stand, und deklamierte:
«Deutscher Sänger! Sing und preise.
Deutsche Freiheit, daß dein Lied unseren Seelen sich bemeistere und zu Taten uns begeistere.«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter: Fehlin.
Hatte er Angst? Hatte er Angst, daß diese Verse, die Verse Heinrich Heines, des Mannes, den er verehrte wie kaum einen anderen
Deutschen, des Dichters, der die Heimat verlassen mußte, weil er die Diktatur der Reaktionäre und Soldatenstiefel nicht mehr ertrug, hatte sein Freund Fehlin Angst vor dem Wort?
Otto Heinrich lachte, legte den Arm um Fehlins Schulter, deutete mit erhobenem Zeigefinger hoch zum Mond und zitierte weiter, so laut, so volltönend, so dramatisch er das nur vermochte.
«Girre nicht mehr wie ein Werther, welcher nur für Lotten glüht, was die Glocke hat geschlagen, sollst du deinem Volke sagen, redet, Dolche, redet, Schwerter…«
Und Fehlin, der gute, der treue Fehlin hielt ihm den Mund zu.
«Nun schrei nicht so, Herrgott noch mal.«
«Angst, Fehlin? Selbst hier? Allein am Uferweg?«
«Allein?«knurrte Fehlin.»In dieser gottverfluchten Stadt ist man niemals allein. «Vorsichtig blickte er über die Schulter zurück. Da waren nur Schatten.»Das ist es ja nicht. Ich leide, weil du so schauerlich falsch deklamierst. Deine Stimme verwundet mein ästhetisches Empfinden. Du magst hundertmal selbst Gedichte schreiben, aber die der anderen brauchst du deshalb noch lange nicht zu verstümmeln.«
«Girre nicht mehr wie ein Werther!«rief Otto Heinrich erneut.»Das gilt Goethe! — Heine hat es in Paris geschrieben, Hans. Im Paris der Juli-Revolution. Ach, wenn ich dort sein könnte! Aber ich seh' ja alles vor mir. Ich brauch' nicht dort zu sein. Ich sehe Alexandre Dumas, Stendhal, und beide tragen die Tricolore in der Hand, beide singen beim Sturm auf den Louvre. Und sie singen die Marseillaise. Und sie siegen, Hans. Denk doch, die Marseillaise! Atmet nicht jede ihrer Zeilen Heines Geist?«
«Kann ja sein. Aber wenn du nicht aufpaßt, fällst du noch hin. Du stolperst ja schon die ganze Zeit. Und überhaupt.«
Fehlin blieb stehen und drehte witternd den breiten Schädel. Hat-te da nicht was geknackt? Dort hinten.
«Ach, verdammt noch mal. «Fehlin dämpfte die Stimme und zog den Freund weiter.»Nun komm doch endlich mal in die Wirklichkeit zurück. Auch wenn's hier nicht so toll ist wie in Paris. Ist ja alles schön und gut, aber weißt du — du mit deinem ewigen Überschwang, du gehst mir manchmal auf die Nerven.«
«Überschwang? Überschwang, das bedeutet Gefühl, Hans. Und Gefühle sind nicht zu ketten. Jedes Gefühl, das echt sein will, anerkennt keine Grenzen.«
«Na, vielleicht. Aber deine Gefühle brodeln wie in einem deiner Apotheker-Kolben, wenn sie zu lange über dem Feuer hängen.«
Otto Heinrich lachte. Dann ging er weiter und wurde nachdenklich. War es so, wie Fehlin sagte? Schimmerte nicht ein Funken Wahrheit hinter seinem Spaß? Bestand er tatsächlich nur aus Emotionen? Was war es, das ihn Heines Freiheits-Verse in die Nacht schreien ließ? Sein eigenes Bedürfnis nach Freiheit? Wie sollte er es nicht mitfühlen, was in diesem großen Dichter vorging? Heine hatte man die Heimat entzogen. Und Goethe? Der erlauchte, der größte, der göttliche Goethe ging nach Karlsbad zur Kur und erholte sich bei seiner jungen Geliebten Ulrike, während um ihn die Welt zu Bruch ging.
Und all dies sollte kein Gefühl erregen?
«Sie haben längst angefangen«, sagte Fehlin.
Schon von weitem, ehe sie die Pappeln erreichten, die den flachen Ziegelbau des Ausflugslokals verbargen, waren Stimmen zu hören. Männerstimmen. Singen. >Gaudeamus igitur< Das Lied der Burschenschaft.
Die Kameraden. Na also.
Fehlin lachte. Fehlin rannte. Rannte ihm sogar voran. Und so stießen sie endlich, lachend und außer Atem, die Türe des Schankraums auf.
Da waren sie! Alle. - Da waren die geröteten Gesichter, lagen die Studenten-Mützen: Alemannen, die von >Germania<, das schwarzrot-goldene Band um die Brust gespannt. Da blitzten die endlosen
Reihen der Gläser durch den grauen Tabaksqualm, rannten die beiden Schankmädchen mit geröteten Gesichtern zwischen Bankreihen hin und her. Und da war auch Sartorius, der ihnen lachend, einen Bierhumpen in der Hand, entgegenkam:»Los, Brüder! Trinkt!«
Und Otto Heinrich trank, trank mit zurückgebogener Kehle, als habe er nie etwas Köstlicheres über die Zunge rinnen gefühlt wie diesen prickelnden, braunen, schäumenden Gerstensaft.
Die anderen johlten.
Er wußte nicht, woher er den Mut nahm. Heiß war seine Stirn, sein Herz pochte, das Feuer glühte, in ihm sang es, und in einem Fieber, das stärker war als alles, was er je gespürt hatte, sprang er auf den Tisch, riß beide Arme hoch, sah sie an, hörte Sartorius':»Silentium! Unseren Dichter hat wieder mal die Muse geküßt.«
«Nicht mich!«rief Kummer.»Einen Helden! Einen der großen deutschen Geister, die Tyrannei und Willkür außer Landes jagten — Heine!«
Er griff in die Tasche. Er brauchte die Abschrift nicht zu lesen. Jedes Wort, jedes einzelne hatte sich ihm eingegraben. Aber er schwenkte sie wie eine Siegesstandarte:»Hier, sein letztes Gedicht! Alles, was uns, die wir mit dem Worte streiten, bewegt — hier ist es ausgedrückt.
Deutscher Sänger! Sing und preise, deutsche Freiheit, daß dein Lied unserer Seelen sich bemeistere und zu Taten uns begeistere.
Girre nicht mehr wie ein Werther, welcher nur für Lotten glüht, was die Glocke hat geschlagen, sollst du deinem Volke sagen, redet, Dolche, redet, Schwerter!
Sei nicht mehr die weiche Flöte, das idyllische Gemüt,
sei des Vaterlands Posaune, sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte…«