Der Gedanke beruhigte ihn und er war ein weiteres Teil, das er dem zerbrochenen Bild in seinem Inneren hinzufügte. Offensichtlich kannte er sich mit Wunden und Verletzungen in einem gewissen Maß aus. Ganz intuitiv war er davon überzeugt, dass er das Ergebnis seiner Untersuchung nicht anzweifeln musste.
Aber wieso war er sich eigentlich so sicher?
War er vielleicht ein Heiler gewesen?
Kaum.
Er betrachtete sich erneut und war zugleich überrascht und beruhigt von dem, was er sah. Er war nicht außergewöhnlich groß, aber von kräftiger Statur. Seine Muskeln waren gut trainiert; die Muskeln eines Mannes, der stets darauf geachtet hatte, in körperlich guter Verfassung zu bleiben, und seine Hände waren nicht die eines Heilers. Heiler hatten feingliedrige, geschickte Finger. Seine waren groß und grob. Hände, die zuzupacken wussten und die Hände eines Arbeiters oder Bauern sein mochten. Nur, dass sie nicht die Zeichen schwerer Arbeit trugen. Er hatte keine Schwielen, dafür jedoch die eine oder andere Narbe, die Spuren älterer und tieferer Verletzungen waren als die, die er gestern Nacht davongetragen hatte.
Die Hände eines Kriegers?
Die Stimme, die er während seines Erwachens zu hören geglaubt hatte, hatte ihn Satai genannt.
Ja.
Satai.
Er erinnerte sich jetzt daran. Er wusste nicht wirklich, was dieses Wort bedeutete, aber es rührte etwas in ihm an, etwas Vertrautes und Altbekanntes. Er schüttelte den Kopf, lächelte dabei flüchtig und hob die Hand an die Wange; in einer Bewegung, die unbewusst und so vertraut war, als hätte er sie das ganze Leben lang, an das er sich nicht erinnerte, immer und immer wieder gemacht. Seine Fingerspitzen tasteten über eine dünne Narbe, die sich von seinem linken Mundwinkel in einer gezackten Linie über die Wange bis zum Auge hinaufzog.
Es war ein sehr vertrautes Gefühl. Beinahe musste er lächeln, während er die Hand wieder senkte. Nein, er musste sich keine Sorgen machen. Seine Erinnerungen kamen bereits wieder zurück, auf Umwegen und nicht so, wie er es gerne gehabt hätte, aber sie kamen zurück.
Langsam drehte er sich herum und begann in nördlicher Richtung loszumarschieren, auf den Wasserfall und die gewaltige Klippe zu, über die er stürzte. Die Sonne stieg allmählich höher, es wurde immer wärmer. Im Moment empfand er diese Wärme noch als sehr angenehm; sein Körper sog die Wärme fast gierig in sich auf, und es war, als könnte er die Kraft der Sonnenstrahlen sofort und ohne Umwege in die so dringend benötigte Energie umwandeln. Seine Bewegungen wurden allmählich geschmeidiger und seine Schritte waren jetzt leicht, schnell und sehr zielgerichtet. Aber er wusste auch, dass der Tag bald unerträglich heiß und die Sonne, die ihm jetzt noch wie ein Verbündeter erschien, zu seinem Feind werden würde. Obwohl er in der vergangenen Nacht nicht nur durch den See geschwommen war, sondern auch einen gut Teil davon getrunken hatte, war er schon jetzt wieder durstig. Sein Gaumen fühlte sich geschwollen und pelzig an und er hatte einen bitteren, ungewöhnlichen Geschmack auf der Zunge, der auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise mit dem verblassenden Gefühl von Müdigkeit und Schwäche in seinen Gliedern korrespondierte. Durst war jedoch nicht sein Problem. Es gab Wasser im Überfluss, aber er brauchte Nahrung und viel dringender noch Schatten oder wenigstens etwas, womit er seine Haut bedecken konnte, um nicht zu verbrennen. Weit und breit gab es jedoch nur Felsen, zwischen denen nichts weiter als dürres Gestrüpp wucherte; drahtige Ranken mit Dornen und Spitzen, an denen man sich üble Verletzungen einhandeln konnte. Die Natur in diesem Teil der Welt war feindselig und wusste sich zu wehren. Aber sie war nicht überall so.
Er hob den Kopf. Auf der Klippe über ihm schimmerte ein dünner, dunkelgrüner Streifen, der Schatten und Sicherheit zu versprechen schien, aber ihm war klar, dass seine Kräfte niemals ausreichten, dort hinaufzusteigen. Nicht in seinem jetzigen Zustand.
Ein Vogel schrie.
Er suchte aus zusammengekniffenen Augen den Himmel ab und entdeckte einen winzigen Punkt, der weit über ihm seine Kreise zog, dann einen zweiten. Als er ihrer Bahn folgte, gewahrte er nicht einmal weit entfernt einen vielleicht mannshohen Felsen, auf dem einige Möwenpaare nisteten. Er marschierte darauf zu, kletterte mit einiger Mühe und einem Gefühl des Ärgers über seine eigene Unzulänglichkeit hinauf und fand mehr als ein Dutzend Eier in den Nestern. Beinahe gierig nahm er eines nach dem anderen heraus, drückte mit dem Fingernagel die gefleckte Schale ein und schluckte den Dotter herunter. Die Möwen umtanzten ihn kreischend, und ein besonders mutiges Tier stürzte sich auf ihn und versuchte ihn von seinem Gelege zu verjagen.
Er schlug nach ihm. Nicht einmal wirklich mit der Absicht es zu treffen, doch der Hieb war so schnell und so unerwartet kraftvoll, dass sein Handrücken die Möwe im Flug traf und auf den Fels herabschmetterte. Das Tier kreischte erschrocken und versuchte ungeschickt und mit schlagenden Flügeln sich aufzurichten, doch auch seine nächste Bewegung war von einer Schnelligkeit, die ihn selbst am meisten überraschte. Blitzartig packte er zu, brach dem Tier das Genick und begann schnell und ohne wirklich darüber nachzudenken den Kadaver zu rupfen.
Die Möwe war nicht besonders groß und er hatte kein Werkzeug, um sie auszunehmen, sodass er auf Finger und Zähne angewiesen blieb und nur einen kleinen Teil des Fleisches roh herunterschlingen konnte. Der Geschmack war ekelhaft, aber er brachte auch Leben und frische Energie, die ihn seinen Widerwillen vergessen ließen. Außerdem hatte sein Hunger mittlerweile die Grenze zwischen Unbehagen und Schmerz überschritten und er ahnte auch, dass noch viel größere Anstrengungen vor ihm lagen, sodass er sich zwang weiterzuessen, bis das wütende Rumoren in seinem Magen nachließ. Danach schleuderte er die Reste des toten Vogels so weit von sich, wie er nur konnte.
Mit einer Mischung aus Überraschung und Ekel betrachtete er seine blutigen Hände, ein wenig erschrocken über seine eigene Schnelligkeit, viel mehr aber noch über die Art, auf die er reagiert hatte. Blitzartig und richtig und ohne auch nur über das nachzudenken, was er tat. Vielleicht hatte ja der Hunger seine Reaktion diktiert, aber er wusste nun, was er war: Sein Hieb war die kompromisslose Reaktion eines Kriegers gewesen. Ein weiteres wertvolles Stück in dem Mosaik in seinem Kopf, das er zusammensetzen musste.
Sein Hunger war halbwegs gestillt, aber er nahm trotzdem auch noch die letzten Eier aus dem Nest - wenn auch mehr, um den widerwärtigen Geschmack nach rohem Fleisch zu vertreiben - und leerte sie auf die gleiche Weise wie die zuvor. Der schlechte Geschmack blieb jedoch in seinem Mund. Obwohl ihm die Erinnerung an sein Essen ein mittlerweile fast körperliches Gefühl von Ekel bescherte, wusste er doch zugleich, dass er schon Schlimmeres gegessen hatte. Was zählte, war Überleben, sonst nichts.
Möglicherweise würde ihm das, woran er sich so verzweifelt zu erinnern versuchte, nicht sehr gefallen. Vielleicht war der Grund, aus dem er sich nicht mehr an sein bisheriges Leben erinnern konnte, ganz einfach der, dass er es nicht wollte.
Er sprang mit einer kraftvollen Bewegung vom Felsen herunter, drehte sich einmal im Kreis und marschierte in der einzigen Richtung los, die sinnvoll, war: weiter am See entlang und auf die Klippe zu. Er wusste nicht, ob es eine Möglichkeit gab, sie zu ersteigen, aber irgendwie musste er dort hinauf.
Während er mit schnellen, aber Kräfte sparenden Schritten am Ufer entlangging, sah er wieder zu der gezackten Schattenlinie empor, die zwischen den sprühenden Gischtwolken am oberen Rand des Wasserfalles aufragte. Es erschien ihm fast unmöglich - die Strömung dort oben musste unvorstellbar sein -, aber die Gebäude schienen direkt in den Wasserfall hineingebaut zu sein. Ganz davon abgesehen, dass dies kaum möglich war, fragte er sich, welchen Sinn ein solches Bauwerk gehabt hätte. Wozu den Urgewalten der Natur trotzen, wenn es keinerlei Nutzen dabei gab?