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Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, blinzelte ein paarmal und sah abermals nach oben. Diesmal war er fast sicher eine Bewegung am oberen Rand der Klippe wahrzunehmen. Aber die Entfernung war einfach zu groß, um Einzelheiten zu erkennen. Er schüttelte resignierend den Kopf, wandte sich wieder um und sah noch in der Drehung eine Bewegung aus den Augenwinkeln.

Ein winziger Punkt hatte sich vom oberen Rand der Klippe gelöst. Er stürzte rasch in die Tiefe - nicht direkt auf ihn zu, aber doch in seine Richtung -, verschwand für die Dauer eines Herzschlages hinter einem Vorhang aus nebeliger weißer Gischt und zerfiel in zwei Teile, als er wieder auftauchte.

Es waren zwei Körper. Sie bewegten sich rasch auseinander und schienen immer schneller zu werden, während sie sich dem Boden näherten. Trotzdem schien der Sturz endlos zu dauern. Er fragte sich, wie es sein musste, mit dem absurden Wissen um den eigenen Tod dem Boden entgegenzurasen und nichts, absolut nichts dagegen tun zu können.

Wenigstens ging es schnell. Der Sturz der beiden Körper kam ihm endlos vor, aber in Wahrheit dauerte er nur wenige Sekunden. Eine der beiden Gestalten kam dem stürzenden Wasser zu nahe und wurde von der glitzernden Wand einfach verschlungen, die andere stürzte fünfzig oder sechzig Meter entfernt in den See und wurde von einem Berg aus weißem Schaum verschlungen. Zweifellos hatte ihn schon der Aufschlag getötet. Bei einem Sturz aus dieser Höhe war selbst Wasser nur wenig weicher als Stahl.

Trotzdem lief er mit schnellen Schritten zum Ufer hinab und überlegte für einen Moment ganz ernsthaft dem Mann nachzuspringen.

Natürlich tat er es nicht. Es wäre Selbstmord gewesen und noch dazu sinnlos. Der Mann konnte nicht mehr leben. Es war absurd, aber er fühlte sich in diesem Moment schuldig - weil er einfach dagestanden und zugesehen hatte, wie die beiden Männer in den Tod stürzten. Natürlich hätte er nichts tun können. Die beiden Männer waren im gleichen Moment tot gewesen, in dem sie der Klippe zu nahe gekommen und abgestürzt waren. Nicht einmal ein Gott hätte sie danach noch retten können, und er war kein Gott.

Er blieb lange dicht am Ufer stehen und blickte auf das schäumende Wasser hinaus, aber der Leichnam des Fremden tauchte nicht auf. Vielleicht würde es Tage dauern, bis das Wasser ihn freigab; vielleicht auch nie. Er wusste, dass dieser See sehr tief war. Das Wasser hatte Millionen Jahre Zeit gehabt sich in den Boden zu graben und es hatte diese Zeit weidlich genutzt. Die Strömung war selbst hier, fast eine halbe Meile von dem Punkt entfernt, an dem das Wasser in den See stürzte, noch so stark, dass der See zu kochen schien. Es gab Unterströmungen und Wirbel, die den Toten meilenweit davontragen konnten, bevor er wieder an die Oberfläche kam. Es war sinnlos, weiter hier am Ufer zu stehen. Vielleicht gelang es ihm ja, den zweiten Leichnam zu finden. Der Wasserfall hatte ihn ergriffen, aber er war nicht ins Zentrum der reißenden Flut gezogen worden. Möglicherweise war er auf dem Ufer aufgeschlagen oder wenigstens nahe genug am Ufer, um nicht von der Strömung ergriffen und fortgetragen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit war so gering, dass der Gedanke allein ihm schon fast lächerlich vorkam - aber was hatte er zu verlieren? Wenn er den Toten fand, würde ihm vielleicht allein seine Kleidung Aufschluss darüber geben, wo er war. Er spürte, dass seine Erinnerungen jetzt mit immer größerer Macht zurückkommen wollten. Vielleicht bedurfte es nur noch eines kleinen Stoßes, um die Mauer in seinem Bewusstsein endgültig einzureißen.

Vorsichtig kletterte er über die scharfkantigen Felsen wieder nach oben und näherte sich der Wand. Der Wasserfall fächerte in seinem unteren Drittel ein wenig auseinander, was dem Wasser zwar ein gut Teil seiner Wucht nahm, aber auch dafür sorgte, dass er das Ufer nicht ganz einsehen konnte. Auf den letzten Metern würde er sich fast blind durch die Gischt tasten müssen, was mit einem gewissen Risiko verbunden war. Trotzdem zögerte er keinen Sekundenbruchteil. Seine Schritte wurden ganz im Gegenteil sogar schneller. Er hatte eine Aufgabe, auch wenn sie nur daraus bestand, einen vermutlich bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Leichnam zu bergen. Es war ein Anfang. Ein sehr mühevoller Anfang, wie sich herausstellte. Seine Vermutung, dass es unmittelbar am Fuß der Klippe eine Zone gab, in der das Wasser relativ ruhig war, gehörte wohl eher in die Kategorie Erinnerung als Annahme, aber auch der Weg war so schwierig, wie er befürchtet hatte. Obwohl er sehr vorsichtig ging, glitt er auf den nassen Felsen ein paarmal aus und einmal wäre er um ein Haar ins Wasser gestürzt. Als er die Felswand erreichte, blutete er aus zwei oder drei neuen Wunden und war vollkommen außer Atem. Die Gischt, die ihn umgab, war so dicht, dass er das Gefühl hatte Wasser zu atmen und immer öfter hustete. Und der Weg war nach wie vor lebensgefährlich. Hier und da stürzten glitzernde Wassersäulen vom Himmel, die schäumend im See verschwanden oder auf den Felsen vor ihm auseinander barsten. Selbst die Spritzer, die ihn trafen, waren spitz und schmerzhaft wie Nadelstiche.

Dann trat er jäh aus dem Wasservorhang heraus und fand sich in einem schmalen, lang gestreckten Bereich fast vollkommener Ruhe wieder; wie im Auge des Orkans, nur dass die entfesselten Elemente rings um ihn herum flüssig waren. Er fand den Toten nicht, aber der Anblick, der sich ihm bot, war so grandios, dass er ihn für den mühevollen Weg entschädigt hätte, wäre er in der Stimmung dazu gewesen.

Über ihm erhob sich ein gewaltiger, schmaler Dom, dessen eine Wand von glitzernden Felsen gebildet wurde, in die Millionen winziger Kristalleinschlüsse eingebettet waren. Die Wand zur Linken erschien kaum weniger massiv, obwohl sie nicht aus fester Materie, sondern aus Wasser bestand, das brüllend und mit ebenso unvorstellbarer Geschwindigkeit wie Wucht direkt aus dem Himmel herabzustürzen schien. Er befand sich hinter dem Wasserfall. Und er war offensichtlich nicht der erste Mensch, der hierher kam. Möglicherweise war dieser ganze Ort gar nicht durch eine Laune der Natur entstanden, sondern künstlich erschaffen worden, denn es gab einen schmalen, ohne Unterbrechung eine knappe Handbreit über dem Wasser entlangführenden Pfad, der dem Fuß der Felswand folgte und in schwer zu schätzender Entfernung in dunstiger Gischt verschwand. Er war zu gleichmäßig und zu gerade, um auf natürliche Weise entstanden zu sein. Jemand hatte ihn gemacht.

Trotzdem zögerte er ihn zu betreten. Der Stein war schlüpfrig und nass und der Pfad an manchen Stellen kaum breiter als zwei nebeneinander gelegte Hände. Ihn entlangzugehen war mit Sicherheit nicht ungefährlich und möglicherweise führte er nur zum anderen Rand des Wasserfalls. Den Toten würde er nicht mehr finden, und auch, wenn er immer noch nicht wusste, warum er eigentlich hier war, so ganz bestimmt nicht aus dem Grund, die Schönheiten der Natur zu bestaunen oder sich einen möglicherweise seit Jahrtausenden vergessenen Zeremonienplatz anzusehen, den die Priester eines längst untergegangenen Ordens hier hinter dem Wasserfall versteckt hatten. Er trat zwei Schritte weit auf das schmale Steinband hinaus und blieb dann wieder stehen, unschlüssig, was er tun sollte.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen und es ging viel zu schnell, als dass er noch hätte reagieren können. Er hatte einen flüchtigen Eindruck von etwas Großem, Dunklem, das sich unter der Wasseroberfläche auf ihn zubewegte, dann barst das Wasser direkt neben ihm auseinander und eine gewaltige Hand schoss empor und klammerte sich um seinen Knöchel. Er warf sich instinktiv nach hinten, drehte sich noch in der Bewegung herum und stieß die Hände nach vorne, um sich irgendwo festzuklammern. Seine Linke stieß ins Leere, Finger und Nägel scharrten hilflos über spiegelglatten, nassen Fels, an dem nicht einmal eine Fliege Halt gefunden hätte, aber seine andere Hand bekam einen vorspringenden Stein zu fassen und klammerte sich mit aller Gewalt daran fest.