»Offen.« Jim strahlte vor Glück über sein gutes Erinnerungsvermögen.
»Und wer saß auf dem Wagen?« »Ein paar Männer.«
»Auch Mr. Harte?«
»Nein, Sir.«
»Also niemand, den du kanntest.«
»Doch, Sir.«
Clemens riß die Augen auf und starrte den Schwarzen an.
»Wen kanntest du, Jim? Sprich!«
»Den Iren, der mit Mr. Harte in die Straße gegangen ist, aus der der Schuß.«
»Jaja, ich weiß. Dieser Ire, wie sah er aus?«
»Er war klein und hatte Sommersprossen.«
»Das ist doch schon etwas«, murmelte Clemens, halb zu sich selbst. »Wenn auch noch nicht genug. Ich schätze, ich werde mir die Straße mal ansehen.«
Jims sonst so unbekümmertes Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.
»Glauben Sie, Mr. Harte ist etwas zugestoßen, Mr. Clemens, Sir?«
»Ich befürchte es.«
Der Ausdruck in Jims dunklem Gesicht wechselte von Besorgnis zu Entschlossenheit. Er stellte den halbleeren Papierkorb ab und nahm eine Petroleumlampe von einem Sekretär.
»Ich komme mit nach Mr. Harte suchen«, erklärte der Schwarze. »Die Straße ist dunkel. Sie brauchen Licht, Mr. Clemens.«
»Gut«, sagte Clemens und wollte das Haus verlassen. Er besann sich im letzten Augenblick und ging zu seinem Schreibtisch. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete er die unterste Schublade und nahm einen Dance Brothers Revolver heraus, Kaliber .36.
»Der könnte von Nutzen sein«, brummte der Journalist, überprüfte die Ladung und steckte die Waffe in die Jackentasche. »All right, Jim, gehen wir.«
Draußen schien Jim seinen Entschluß zu bereuen, Clemens zu begleiten. Immer wieder blieb er stehen und blickte sich suchend um, obwohl es bestimmt nichts zu sehen gab. Clemens trieb ihn an.
Bis sie den Platz erreichten, an dem es tatsächlich etwas zu sehen gab.
»Halt die Lampe still, Jim«, bat der Journalist und bückte sich nach dem Gegenstand vor seinen Füßen, den das Licht eben kurz gestreift hatte.
Es war ein heller Hut, ein schmalkrempiger Strohhut.
»Brets Hut!« zischte Clemens.
Jetzt war er sich sicher, daß seinem Freund etwas zugestoßen war. Harte achtete sehr auf sein Äußeres und war stolz auf seine elegante, stets saubere Kleidung. Freiwillig würde er seinen Hut nicht wegwerfen.
»Hier liegt noch etwas, Sir«, sagte Jim und zeigte auf einen Bretterzaun.
Clemens ging hin und hob den Gegenstand auf. Es war ein zugeschnürter Leinenbeutel, von dem ein unangenehm süßlicher Geruch ausging.
»Was ist das?« fragte der Journalist.
»Ein Beutel«, antwortete Jim.
»Das sehe ich auch. Ich frage mich nur, wem er gehört.«
»Er gehört Mr. Harte. Er ihn bei sich getragen, als er den Call verließ.«
Clemens' Kopf ruckte zu dem Schwarzen herum.
»Bist du sicher, Jim?«
»Sicher, ich bin sicher.«
»Dann wollen wir einmal nachsehen, was in dem Beutel ist. Komm mit deiner Funzel rüber!«
Jim gehorchte, und Clemens öffnete die Schnur, die den Beutel zusammenhielt. Der ekelhafte Geruch nahm zu, und der Inhalt des Beutels war nicht weniger ekelhaft. Es war eine Ratte. Eine tote Ratte mit aufgeschlitztem Leib.
»Uuh«, stöhnte Jim, wich unwillkürlich zurück und hielt mit der freien Hand seine Nase zu. »Das ist scheußlich. Machen Sie schnell wieder zu, Sir!«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Clemens. »Nicht, bevor ich herausgefunden habe, was das Besondere an dieser Ratte ist.«
»Was soll an einer toten Ratte Besonderes sein?« fragte Jim.
»Zum Beispiel der Umstand, daß Mr. Harte sie mitgenommen hat. Ich habe mich schon häufig nach Dienstschluß mit ihm getroffen. Es war bisher nie seine Angewohnheit, zu diesen Treffen tote Ratten mitzunehmen.«
»Yes, das ungewöhnlich sein«, gestand Jim ein.
»Komm näher mit der Lampe!« forderte Clemens. »Ich will mir diese Ratte genauer ansehen.«
»Ich Ihnen sagen können, was Sie werden sehen, Sir: herausquellende Gedärme.«
»Die kann ich eben nicht entdecken. Außerdem ist der Beutel sehr schwer.«
»Ist ja auch eine große Ratte.«
»Und eine wertvolle Ratte«, sagte Clemens, der sich überwand und eine Hand in den Leib des toten Nagers steckte. Dorthin, wo etwas glitzerte, das ganz und gar nicht nach den Innereien einer Ratte aussah.
Er hielt die Hand mit nach oben ausgestreckter Fläche vor Jims Gesicht und fragte: »Was sagst du jetzt?«
»So eine Ratte habe ich noch nie gesehen, Mr. Clemens.«
»Ich auch nicht.«
In der Hand des Journalisten lagen drei große, dicke Goldmünzen. Sogenannte Doppeladler, jeder im Wert von zwanzig Dollar. Und im Leib der Ratte befanden sich noch mehr davon. Insgesamt waren es zehn Doppeladler, also zweihundert Dollar.
»Wo findet man diese Ratten?« fragte Jim.
»Das möchte ich auch gern wissen«, knurrte Clemens, obwohl er einen gewissen Verdacht hegte. Aber noch war es zu früh, darüber zu sprechen. »Vordringlich möchte ich allerdings wissen, wo ich Bret finden kann. Schätze, er war auch auf dem Wagen, der dich fast überfahren hätte, Jim.«
Clemens seufzte tief und fügte hinzu: »Und der kann sonstwohin gefahren sein.«
»Nein, Sir.«
»Nein?« fragte Clemens.
»Nein«, sagte Jim. »Er nicht sonstwohin, sondern nach Barbary Coast gefahren. Ich es gehört, wie der Mann neben dem Kutscher es sagte.«
»Wirklich?« Das düstere Gesicht des Journalisten hellte sich ein wenig auf. »Jim, du bist ein Goldstück!«
Zweifelnd blickte der Neger auf die Münzen in Clemens' Hand und überlegte, ob er Gefallen an diesem Vergleich finden sollte.
*
Bret Harte ertrank.
Das jedenfalls war sein erster Gedanke, als er aus der tiefen Ohnmacht erwachte.
Schuld daran war ein Wasserschwall aus einem großen, kübelähnlichen Eimer, der sich über Hartes arg malträtierten Kopf ergoß.
Stimmen durchdrangen das Platschen des Wassers: »Der Stutzer kommt zu sich.«
»Yeah, wird auch Zeit.«
Harte, der in einem kahlen Raum auf dem Boden lag, wischte das Wasser aus seinen Augen und sah dann die Männer, die eben gesprochen hatten.
Einer war Seamus Mulholland, der tätowierte Schläger mit der Seemannsmütze. Er hielt den über Harte ausgeleerten Eimer in der Hand.
Der andere paßte überhaupt nicht zu dem stoppelbärtigen Kerl. Er war sauber, glattrasiert und trug einen piekfeinen Anzug. So tadellos, wie es Harte eigener Anzug gewesen war, bevor der Journalist den Fehler beging, sich mit diesem kleinen Iren einzulassen.
Jetzt erst bemerkte Harte, daß Laverty auch hier war. Er lehnte hinter den beiden anderen Männern an der Wand und spielte mit seinem Messer. Seine Augen waren unverwandt auf den Verschleppten gerichtet. Es war ein boshafter, rachsüchtiger Blick. Offenbar hatte Laverty die Prügel, die er von dem Journalisten bezogen hatte, nicht verwunden.
Ansonsten gab es nicht viel zu sehen. Der Raum war leer. Nur Holzwände, eine hölzerne Decke und ein hölzerner Fußboden. Keine Fenster und nur eine schmale Tür.
Neben ihr stand Laverty und reinigte sich mit seinem Messer die Fingernägel, die es wirklich nötig hatten. Das diffuse Licht kam von einer Petroleumlampe, die neben dem kleinen Iren auf dem Boden stand.
Kein Zweifel, dies war eine Art Gefängnis!
Der Mann im tadellosen Anzug trat einen Schritt vor, blickte mitleidlos auf den Gefangenen herab und fragte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Harte?«
»Den Umständen entsprechend schlecht.«
Die Antwort endete in einem kräftigen Husten, weil der Journalist Wasser geschluckt hatte.
»Fein.« Der Fremde lächelte dünn. »Dann wollen Sie sicher vermeiden, daß es Ihnen noch schlechter geht.«
»Sicher«, keuchte Harte.