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Molly nickte nur, aber in Gedanken sagte sie: Paß bloß auf, daß der Hai dich nicht in einem Wutanfall auffrißt!

*

Am nächsten Morgen.

»War er das?« fragte Jacob zweifelnd und starrte dem untersetzten Mann nach, den er nur von hinten sah. Der Unbekannte bog gerade um eine Ecke, womit er die Dean Street und das Blickfeld der beiden Auswanderer verließ.

Jacob und Irene hatten das Boarding-House nach dem einfachen, aber kräftigen Frühstück verlassen. Beide wollten zur Arbeit. Jacob zu Reverend Humes abgebranntem Waisenhaus und Irene hinauf auf einen der Hügel zum Anwesen von Senator William Basehart. >Big Bill< hatte ihr eine Stellung als Dienstmädchen angeboten, die sie heute antreten wollte. Wie auch Jacobs Anstellung als Zimmermann, eine willkommene Gelegenheit, die arg zusammengeschrumpfte Reisekasse aufzubessern. Irene durfte sogar ihren kleinen Sohn mitbringen.

Irene sah ebenfalls in die Richtung, wo der Fremde verschwunden war.

Langsam wiegte sie den Kopf hin und her und sagte: »Ich weiß nicht, Jacob. Es hätte der Mann von gestern abend sein können.«

»Dann ist er tatsächlich hier untergekommen. Er muß vor uns gefrühstückt haben.«

»Und wenn schon?« fragte die junge Frau mit dem kleinen Kind auf dem Arm. »Was hast du bloß gegen diesen Mann?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie beunruhigt er mich.«

Baseharts prächtiges Anwesen nahm die Kuppe eines mit bunten Blumen bewachsenen Hügels ein. Es war ein wunderschönes Bild, zumal die Wolken fortgezogen waren. Jetzt badete, wie fast das ganze Jahr über, die Sonne San Francisco in ihren wärmenden Strahlen.

Der Senator empfing die beiden Deutschen persönlich und machte ihnen ein verlockendes Angebot: »Der Weg von der Dean Street nach hier oben ist weit. Ich schlage deshalb vor, daß Sie beide bei mir wohnen. Kost und Logis sind selbstverständlich frei. Ich habe bereits zwei Zimmer herrichten lassen und Ihnen auch passende Kleidung besorgt. Ihre restliche Habe lasse ich von einem meiner Leute aus dem Boarding-House holen. Ist Ihnen das recht?«

Begeistert stimmten Jacob und Irene zu. Ein eigenes Zimmer war etwas anderes als die großen Schlafsäle in Mrs. Marshs Boarding-House.

Den ganzen Tag verbrachte Jacob in der Bolding Street und überwachte den Abtransport der Trümmer von Reverend Humes Waisenhaus. Er untersuchte alles genau nach brauchbaren Teilen, aber er fand so gut wie nichts. Das hungrige Feuer hatte gefressen, was es nur bekommen konnte. Das ganze Viertel war ebenso verwüstet wie das angrenzende Chinatown, wo das durch die Männer des Hais gelegte Feuer ausgebrochen war.

Das Waisenhaus und die Nähe der Chinesenstadt ließen Jacob immer wieder an Wang Shu-hsien denken. Hier im Waisenhaus hatte er eine kurze Zeit voller Zärtlichkeit und Lust mit der schönen jungen Chinesin verbracht.

Aber als Jacob Shu-hsien aus den Händen des Hais befreite, ging ein seltsamer Blick von ihren smaragdschimmernden Katzenaugen aus. Kälte und Abweisung lagen darin. Die schrecklichen Vorfälle der Nacht - das Abbrennen Chinatowns und die Folter durch den Hai - schienen alle Gefühle in ihr getötet zu haben.

Seitdem hatte Jacob sie nicht mehr gesehen. Einerseits spürte er Sehnsucht und Verlangen nach Shu-hsien. Andererseits fühlte er, daß das Band der Liebe zwischen ihnen endgültig zerrissen war. Er glaubte, in Shu-hsiens Augen den Entschluß gelesen zu haben, nie wieder etwas mit einem weißen Mann zu tun zu haben.

Jacob und die Männer, die Senator Basehart angeheuert hatte, arbeiteten bis in die Dämmerung hinein. Auch Reverend Alister Hume packte mit an. So schafften sie es, den Platz, an dem Humes Waisenhaus gestanden hatte, bis zum Abend von allen Trümmern zu befreien.

»Morgen können wir schon mit dem Wiederaufbau anfangen«, sagte Jacob zufrieden.

Der Reverend sah ihn mit leuchtenden Augen an.

»Danke, Mr. Adler. Ich werde Ihnen das niemals vergessen.«

»Noch steht das Haus nicht«, wehrte der junge Zimmermann ab. »Außerdem haben Sie mir selbstlos geholfen, als die Männer des Hais hinter mir her waren. Ich freue mich, mich dafür revanchieren zu können.«

Hume blickte hinauf in den blauen Himmel und sagte: »Gute Taten werden belohnt.«

»Und schlechte bestraft?« fragte Jacob.

»Aber ja doch!«

»Hoffentlich«, seufzte der Deutsche und dachte dabei an Max Quidor und den Hai von Frisco, die höchstwahrscheinlich ein und dieselbe Person waren.

*

Bret Harte hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Als er irgendwann erwachte, war um ihn herum nur Dunkelheit gewesen.

Und in ihm drin ein ungeheurer Schmerz. Besonders in seinem Kopf. Dort, wo ihn Mulhollands Fäuste getroffen hatten.

Da es derart finster war, nahm der Journalist an, daß er sich noch in dem fensterlosen Raum befand.

Überprüfen konnte er es nicht. Er war zu nichts in der Lage, außer auf dem Boden zu liegen. Fesseln, die schmerzhaft in sein Fleisch schnitten, hinderten ihn nicht nur am Aufstehen, sondern an der geringsten Bewegung.

Selbst das Nachdenken bereitete seinem Kopf Schmerzen. Also lag er einfach nur da und wartete.

Manchmal hörte er Geräusche, die ihn an Schritte erinnerten. Selten vernahm er leise Stimmen, ohne die Worte zu verstehen. Ein- oder zweimal glaubte er, das Klimpern eines Pianos zu hören.

Dann war da plötzlich das schabende Geräusch eines schweren Riegels, der zurückgezogen wurde - ganz nah!

Der Gefangene riß die Augen auf.

Mit einem Quietschen schwang die schmale Tür auf. Licht flutete in den Raum und stach schmerzend in Hartes daran nicht mehr gewöhnte Augen.

Schritte kamen näher, begleitet von leiser Pianomusik. Es war die schnelle, lustige Melodie von Cluck OldHen.

Harte gewöhnte sich schnell an das Licht. Es war weniger stark, als er anfangs glaubte. Wieder kam es nur aus einer Petroleumlampe.

Und wieder besuchten ihn die drei Männer, die der Gefangene vor seiner Ohnmacht gesehen hatte.

Draußen auf dem Gang war noch ein Mann, der jetzt die Tür schloß. Harte sah ihn nur undeutlich, kaum mehr als einen Schatten. Ein sehr massiger Schatten.

»Wie sieht es aus, Schreiberling?« erkundigte sich Claude Dana. »Möchtest du uns jetzt das erzählen, was wir wissen wollen?«

»Was wollen Sie den wissen?« krächzte Harte.

Seine Stimme war rauh, der Mund pelzig. Er hatte lange nichts mehr gegessen und getrunken. Jetzt sehnte er sich fast danach, mit einem Eimer Wasser übergossen zu werden.

»Erzähl uns erst mal, was du deinem Freund erzählen wolltest. Diesem Clemens oder Twain, oder wie auch immer er heißen mag. Du hattest es doch so eilig, dich mit ihm zu unterhalten.«

»Es ging nur um berufliche Dinge«, log Harte. »Da der Call nach dem Brand so gut läuft, wollte ich ihn fragen, wen wir als zusätzlichen Journalisten einstellen könnten.«

Dana durchschaute die Lüge und bestrafte sie mit einem schnellen Stiefeltritt in Hartes Unterleib.

»Möchtest du, daß Mulholland die Behandlung von letzter Nacht fortsetzt?« fragte Dana scharf. »Oder soll ich dich lieber unserem Freund Roy überlassen? Er ist schon ganz wild darauf, dich als Wetzstein für sein Messer zu benutzen.«

Zur Bestätigung dieser Worte zückte der kleine Ire die besagte Waffe und strich verträumt mit dem Daumen , über die Klinge.

»Geben Sie mir etwas Wasser«, bat Harte. »Dann kann ich besser reden.«

»Beweis erst mal, daß du etwas Vernünftiges zu sagen hast!« blieb Dana hart.

»Wer sind Sie überhaupt?« fragte Harte. »Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Der Dandy grinste, zog mit einer übertriebenen Geste seinen Hut und machte eine ebenso übertriebene Verbeugung.

»Verzeihen Sie, werter Sir, daß ich mich vorzustellen vergaß. Meine Name ist Dana, Claude Dana.«