Jetzt erst bemerkte sie, daß ihr Kleid verrutscht war. Eine der riesigen Brüste schaute heraus und offenbarte eine fast handtellergroße Warze.
Molly stopfte die Brust wieder in ihr Kleid und ging mit Buster zum Ausgang. Die große Tür war, wie auch die Fenster, nachträglich in den Schiffsrumpf eingebaut worden.
Draußen regnete es noch immer. Man konnte kaum zehn Yards weit sehen.
Buster streckte die Hand aus und deutete in den Regen.
»Was, ich soll da raus?« empörte sich die Frau. »Danach bin ich so naß, als hätte ich den Pazifik durchschwommen!«
Der Neger zog sein teures Jackett aus und legte es über Kopf und Schultern der Frau. Ihm machte der Regen offenbar nichts aus.
Sie liefen hinaus. Bald sah Molly die Umrisse der kleinen Kutsche und unter dem schützenden schwarzen Verdeck die schlanke Gestalt eines Mannes.
Er war kaum mehr als mittelgroß und hatte dunkles, leicht gewelltes Haar. Das gutaussehende Gesicht mit dem eingekerbten Kinn wurde von einem herben, grausamen Zug beherrscht.
Molly hatte den Hai von Frisco noch nie gesehen. Henry Black, der Inhaber des Golden Crown, war bei der Übernahme des Red Whale als sein Mittelsmann aufgetreten.
Trotzdem wußte die Frau sofort, daß sie den Mann vor sich sah, vor dem die halbe Stadt zitterte. Sie kannte Buster, der damals bei Black gewesen war. Die Gerüchte besagten, daß der stumme Schwarze Leibwächter und rechte Hand des geheimnisvollen Hais war. Und daß der Hai seine zwielichtigen Geschäfte vom Golden Crown aus leitete.
Aber was wollte er dann hier?
Der Mann im Wagen nickte knapp. »Sie wissen, wer ich bin, Molly?«
»Ich denke, ja. Ein ganz großer Fisch. Der Größte, der sich in Frisco tummelt. Und der Gefährlichste.«
Der Anflug eines Grinsens huschte über das Gesicht des Mannes.
»Schön formuliert. Außerdem bin ich ein Fisch, der dringend einen neuen Unterschlupf benötigt. Der Bauch eines roten Wales käme mir sehr gelegen.«
»Was ist passiert? Hat das Feuer etwa auch den Portsmouth Square erreicht und das Golden Crown erwischt?«
»Nicht das Feuer hat das Golden Crown erwischt, sondern die verdammte Armee.«
»Oh!«
Plötzlich überschlugen sich die Gedanken der Frau. Wenn die Armee dem Hai auf der Spur war, konnte es für Molly gefährlich sein, ihm Unterschlupf zu gewähren.
Andererseits - tat sie es nicht, hätte sie vermutlich nicht mehr lange zu leben.
»Was ist mit Black?« fragte sie.
»Tot, vermutlich.«
»Kommen Sie«, sagte Molly. »Wir nehmen den Hintereingang, um kein Aufsehen zu erregen.«
»Buster und ich fahren mit der Kutsche um den roten Wal«, erklärte der Hai. »Ich bin nämlich nicht gut zu Fuß.«
Als der von Buster gelenkte Zweispänner das Schiff umrundet hatte, sah Molly, was der Hai meinte. Der meistgefürchtete Mann von San Francisco war ein Krüppel! Er konnte seine Beine nicht benutzen und benötigte Busters Unterstützung, um ins Red Whale zu kommen.
»Wie ist das passiert?« fragte Molly impulsiv.
Die Züge des Hais verhärteten sich.
»Eine alte Rechnung, die ich bald begleichen werde. Der Mann, dem ich das verdanke, hält sich in Frisco auf. Ich werde dafür sorgen, daß dieser verfluchte Jacob Adler für alles büßen muß!«
Die abgebrühte Frau erschrak. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Drohungen gehört. Aber keine war mit solcher Inbrunst und solchem Haß ausgestoßen worden.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich und glich jetzt tatsächlich der Fratze eines blutgierigen Hais.
*
In derselben Nacht, ein paar Stunden zuvor.
Einem urzeitlichen Koloß gleich, wälzte sich die PERSIA durch die ruhigen Fluten des Pazifiks.
Die dicken Rauchfahnen, die aus den großen Schornsteinen, nach alter Cunard-Tradition leuchtend rot mit schwarzem Oberteil, wehten, wurden vor dem dunklen Nachthimmel bald unsichtbar. Nur wer genau hinsah, bemerkte, wie der Rauch einen Schleier vor die am Firmament blinkenden Sterne legte.
Die mächtigen dampfgetriebenen Schaufelräder an beiden Seiten des Schiffes wühlten die See auf und trieben den Stolz der Cunard-Reederei mit jeder Umdrehung voran.
Um die verhaltene, aber stete Brise auszunutzen, hatte der Kapitän zusätzlich Segel setzen lassen. Er hoffte auf einen neuen Rekord. Immerhin konnte die PERSIA für sich in Anspruch nehmen, die Strecke New York-Liverpool in der Rekordzeit von neun Tagen, einer Stunde und 45 Minuten zurückgelegt zu haben. Die jetzige Fahrt war die erste, auf der das Schiff von New York weiter nach San Francisco fuhr. Der neue Goldrausch ließ die neue Route als einträchtiges Geschäft erscheinen, und der Reeder Sam Cunard hatte ein gutes Gespür für einträgliche Geschäfte.
Der alte Cunard würde mit seinem Schiff zufrieden sein, dachte Kapitän Edward Billings, während er auf der Brücke stand und gedankenverloren seinen Blick über das von vielen Lichtern erhellte Deck schweifen ließ. Es hatte das Kap Horn so schnell umrundet wie kaum ein anderes Schiff zuvor. Alles sah nach einem neuen Rekord aus.
Ursprünglich hatte man San Francisco am übernächsten Tag erreichen wollen. Jetzt lauteten die nicht allzu waghalsigen Wetten darauf, daß die PERSIA schon am kommenden Morgen durch das Golden Gate fahren würde.
Die Lichtflächen überall auf Deck waren Fenster. Dahinter lagen die großen Salons, in denen sich die gutbetuchten Passagiere vergnügten. Umgeben von glitzernden Spiegeln an den holzvertäfelten Wänden, von dicken Orientteppichen unter ihren Füßen, von schweren Sesseln und kunstvoll verzierten Tischen, schien der nur wenige Schritte entfernte Ozean so weit von den feinen Ladies und Gentlemen entfernt zu sein, wie es in Wahrheit die Metropole London und der Heimathafen Liverpool waren. Moderne Dampfheizungen erfüllten die Räume mit molliger Wärme und verdrängten die Kälte der Märznacht.
Franz Pape war es zu warm. Schweißperlen glitzerten auf seiner hohen Stirn. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Immer wieder fingerte er am Kragen herum, um ihn ein Stück zu lockern, während er so tat, als lausche er dem hirnlosen Geplapper der drei Schwestern aus Providence.
Sie waren in New York an Bord gegangen, so wie Pape und sein Freund Carl. Die jungen Ladies aus Providence interessierten sich hauptsächlich für letzteren. So war es immer gewesen, seit Pape und Carl sich vor vielen Monaten auf dem Weg nach Oregon kennengelernt hatten.
Der gutaussehende, gebildete Carl brauchte nur einen Raum zu betreten, und schon scharten sich die Damen um ihn.
Dagegen verblaßte Franz Pape - untersetzt, mit leicht aufgeschwemmtem Gesicht und schon stark zurückweichendem Haar - zur Bedeutungslosigkeit.
Plötzlich löste sich Carl von den drei unentwegt redenden Frauen und wandte sich seinem Freund zu.
»Ist dir nicht wohl, Franz? Du siehst schlecht aus.«
»Es ist so stickig hier drin.«
Papes Erklärung enthielt nicht die ganze Wahrheit. Seine Nervosität, die Atemnot und der Schweiß auf seiner Stirn hatten noch einen anderen Grund: Wenn die Vorhersagen der Besatzung stimmten, war dies die letzte Nacht auf See. Die Nacht in der es geschehen mußte!
»Machen wir einen Spaziergang an Deck«, schlug Carl vor und wandte sich an die Damen. »Würden die Ladies uns die Ehre ihrer Begleitung erweisen?«
»Ich weiß nicht recht«, zauderte die erste, die älteste der drei Schwestern, hin und her gerissen zwischen Carls Anziehungskraft und der wenig erbaulichen Aussicht, den behaglichen Salon verlassen zu müssen.
»Es ist schon recht spät«, gab die zweite zu bedenken.
»Um diese Zeit ist es an Bord schon sehr kalt«, fügte die dritte an. »Und dann noch dieser zugige Fahrtwind.« Sie schüttelte sich schon allein bei dem Gedanken.
»Dafür haben Mr. Pape und ich natürlich Verständnis«, erklärte Carl und setzte sein charmantestes Lächeln auf, das allen drei Schwestern zugleich zu gelten schien und doch unverbindlich blieb. »Wenn uns die Damen dann entschuldigen würden. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«