Er steigerte sich vollkommen in die Aufregung hinein. Er stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf und lief schreiend weiter.
Bis ihn kräftige Arme aufhielten und eine Stimme fragte: »Sir, was ist passiert? Wer ist über Bord gegangen?«
Der Sprecher gehörte zur Schiffsbesatzung, ein Maat.
»Mein Begleiter«, stammelte Pape und nannte Carls Namen.
»Wo?«
Pape zeigte in die Richtung.
»Da drüben, beim Schaufelrad. Mein Freund wollte es beobachten und beugte sich dabei zu weit über die Reling.«
Das breite Gesicht des Maates verfinsterte sich. Er drehte sich um, lief in Richtung Brücke und wiederholte Papes Schrei.
Ein anderes Besatzungsmitglied nahm den Ruf auf und gab ihn weiter.
Als die Meldung die Brücke erreichte, zögerte Kapitän Billings keine Sekunde. Er hatte eine solche Situation mehr als einmal erlebt.
Fast automatisch griff er zum Maschinentelegraphen und legte die knotige, sonnengebräunte Hand um den Befehlshebel, der auf >VOLL VORAUS< stand. Mit einen kräftigen Ruck zog Edward Billings den Hebel in die Mitte der halbkreisförmigen Scheibe, auf >STOP<. Der pfeilförmige Quittungsanzeiger folgte.
Billings wußte, welche Aufregung jetzt in den Maschinenräumen herrschte, um den riesigen Ozeandampfer von voller Fahrt zum Stillstand zu bringen.
Einige seiner Männer würden ganz hübsch fluchen. Viele Passagiere ebenfalls. Der neue Rekord war dahin.
Billings fand es schade, aber nicht mehr. Ein Menschenleben war wichtiger als ein Rekord, Lobeshymnen und Champagnerempfänge.
Der Kapitän wandte sich an die Männer der Brückenwache und schnarrte: »Segel reffen, Lage erkunden und gegebenenfalls Rettungsboote aussetzen! Sobald Erkenntnisse vorliegen, Meldung an mich!«
Die Rettungsboote wurden ausgesetzt. Sie suchten die ganze Nacht hindurch, den Morgen und den halben Tag.
Vergebens. Die Männer von der PERSIA fanden keinen Carl, weder lebendig noch tot.
Am Nachmittag ließ Kapitän Billings die Fahrt fortsetzen. Franz Pape spielte den zu Tode Betrübten, aber in Wahrheit war er unendlich erleichtert. Alles verlief nach Plan, nach seinem Plan.
Viele, die in diesen Tagen des Goldrausches nach San Francisco kamen, hofften auf schnellen Reichtum. Weitaus die meisten wurden bitter enttäuscht.
Franz Pape glaubte, daß er nicht zu den Enttäuschten gehören würde. Er würde reich werden!
Das Ölhautpäckchen, das er, wie zuvor Carl, dicht am Körper trug, bürgte dafür.
*
Statt am frühen Morgen lief die PERSIA erst in der Abenddämmerung auf das Golden Gate zu, die Einfahrt in die Bucht von San Francisco.
Zwar war das schreckliche Geschehen der letzten Nacht noch immer Tagesgespräch, doch es drückte kaum auf die gute Laune der meisten Menschen an Bord. Die Passagiere freuten sich auf die Goldstadt.
Die der ersten Klasse besuchten San Francisco aus touristischen Gründen, die anderen hofften auf viele Nuggets. Und die Seeleute waren ganz verrückt nach den zahlreichen Möglichkeiten des Amüsements, für die San Francisco berühmtberüchtigt war.
Von dieser ausgelassenen Stimmung getragen, begrüßten die Menschen an Deck jedes entgegenkommende Schiff mit heftigem Winken und lautem Schreien.
Darunter auch eine imposante Yacht, die etwa zwei Seemeilen vor dem Golden Gate ankerte. Der große Raddampfer war gut in Schuß. Im rötlichen Licht der allmählich auf den Pazifik niedersinkenden Sonnenscheibe blinkte jedes Metallteil wie frischpoliert. Wer die Yacht von der PERSIA aus mittels Ferngläsern beobachtete, konnte den Namen lesen: FRISCO QUEEN.
Und der sah auch, weshalb die Yacht die zahlreichen Grüße des Ozeanriesen nicht beantwortete: An Bord der FRISCO QUEEN hatten sich die Menschen zu einer Bestattung versammelt. Die blauweiß-rote US-Flagge am Heck hing auf halbmast.
Der Leichnam war auf dem Achterdeck aufgebahrt und mit einem großen Sternenbanner bedeckt. Der Kapitän hatte sich dort mit dem größten Teil der Besatzung versammelt, dazu einige weitere Menschen.
Ein schlanker, blasser Mann in schwarzer Kleidung, ein Geistlicher, las aus der Bibel vor. Es war Reverend Alister Hume, dessen Waisenhaus in der vergangenen Nacht ein Raub der Flammen geworden war.
Dicht neben ihm standen ein junger Mann und eine junge Frau, beide in einfacher, zerschlissener Kleidung.
Der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem goldenen Ring im rechten Ohr blickte auf die See hinaus. Sein sonst so offenes Gesicht wirkte versteinert.
Der deutsche Auswanderer Jacob Adler dachte an den Verstorbenen, den er nur kurze Zeit gekannt hatte und der ihm doch ein guter Freund gewesen war: Der Harpunier Elihu Brown hatte sein Leben im Kampf gegen den Hai von Frisco geopfert.
Gleichzeitig tauchte das Gesicht eines anderen Mannes vor Jacobs geistigem Auge auf. Auch der alte Seebär Piet Hansen war ein Freund des Auswanderers gewesen und kürzlich erst gestorben. Vor Jacobs Augen war die Leiche, wie zuvor Piet Hansens Schiff ALBANY, im Pazifik versunken.
Trauer zeichnete auch das schöne, ebenmäßige Gesicht von Irene Sommer. Die junge Deutsche hatte erst von Piet Hansens Tod erfahren, als Jacob sie in der letzten Nacht aus der Gewalt des Hais befreite. Irene trauerte aber auch um Elihu Brown, den sie gar nicht gekannt hatte. Jacob hatte ihr von Browns Schwur erzählt, nicht von Jacobs Seite zu weichen, bis der junge Auswanderer Irene und ihren kleinen Sohn Jamie wiedergefunden hatte.
Bei dem Gedanken, wie leicht der Hai Irene und Jamie hätte töten können, lief ein Schauer über den Rücken der jungen Frau. Schlagartig bereute sie, ihren Sohn nicht mit aufs Schiff genommen zu haben. Wenn ihm nun etwas zustieß?
Nein, das war lächerlich. Mrs. Goldridge, die rechte Hand des Reverends, kümmerte sich um ihn.
Ohne Alister Hume hätte Elihu Brown wohl kaum die Seebestattung erhalten, die ihm nach Jacobs Meinung zustand. Jedenfalls nicht auf einer so feudalen Yacht. Die FRISCO QUEEN gehörte Senator William Basehart, von Freunden, Bewunderern und vielen anderen nur >Big Bill< genannt.
Er lebte schon seit den Tagen des ersten Goldrausches in San Francisco, hatte es als tüchtiger und gewitzter Geschäftsmann zu gehörigem Reichtum gebracht und den erst seit vierzehn Jahren zu den USA gehörenden Staat Kalifornien für eine Amtsperiode in Washington vertreten.
Basehart liebte die große Stadt San Francisco, die er schon gekannt hatte, als sie noch der unbedeutende Küstenort Yerba Buena gewesen war. Er hatte mitgeholfen, sie groß zu machen. Und er hatte ihr selbst in der Zeit der großen Depression die Treue gehalten. Damals, 1855, als der erste Goldrausch mangels Gold plötzlich verebbte und viele Geschäftsleute sich überstürzt aus der Stadt am Golden Gate zurückzogen. Unter den zweihundert Geschäften, die in Konkurs gingen, gehörte sogar die größte Bank von Kalifornien. Aber Big Bill Basehart hielt durch, mit der Folge, daß seine >Basehart Bank< eine führende Stellung einnahm und sein Ruf als standfester Geschäftsmann noch wuchs.
Basehart hatte Reverend Hume seine finanzielle Unterstützung zugesagt, als er vom Schicksal des Waisenhauses erfuhr. Was wohl daran lag, daß der Senator selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen war.
Und als Basehart hörte, daß Jacob Adler und Elihu Brown unter Einsatz ihres Lebens die Kinder aus dem brennenden Haus gerettet hatten, hatte er seine Yacht für die Seebestattung zur Verfügung gestellt. Mehr noch, Big Bill selbst erwies dem Ermordeten die letzte Ehre.
Er war ein großer, stämmiger Mann mit schlohweißem Haar und gleichfarbenen langen Koteletten. Das ließ ihn älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Der stechende Blick in seinem scharfgeschnittenen Gesicht verriet, wieviel Energie noch in ihm steckte.
Der Reverend war fertig, schloß die Bibel, blickte in die Runde und fragte, ob noch jemand etwas sagen wollte.