»Ja«, sagte Jacob mit erstickter Stimme und mußte einen Kloß hinunterschlucken. Er blickte auf den einfachen Sarg unter dem Sternenbanner. Jacob selbst hatte ihn aus altem Holz gezimmert. »Eli war ein guter Seemann und ein guter Freund. Ich bedaure, daß ich ihn nur so kurze Zeit gekannt habe.«
Er nickte dem Reverend zu, und der sagte feierlich: »Wir übergeben den Leichnam jetzt der See. Möge sie ihn so gütig aufnehmen wie der Allmächtige Vater die Seele des Verstorbenen!«
Zwei Matrosen hoben die Pritsche an, auf der der Sarg stand. Gleichzeitig hielten sie das Flaggentuch fest. Der Sarg rutschte unter dem Tuch hervor und stürzte ins Meer, wo der innen mit Steinplatten beschwerte Holzkasten sofort versank.
Ein, zwei Minuten herrschte Schweigen. Dann räusperte sich William Basehart und sagte: »Im Speisesalon wartet ein kleines, einfaches Essen auf uns. Ich denke, es gibt noch ein paar Dinge zu besprechen.«
Jacob folgte den anderen nicht. Er blieb an der Reling stehen und schaute ins Meer.
Am Horizont tauchte die Sonne gerade in die Fluten ein - so jedenfalls sah es aus - und versank rasch in ihnen. Die Farbe des Wassers wechselte vom leuchtenden Hellblau zum matten Dunkelblau. Es hatte etwas Düsteres an sich. Und düster waren auch Jacobs Gedanken.
Sie galten dem Verstorbenen ebenso wie dem Mann, der die eigentliche Schuld an seinem Tod trug: der Hai von Frisco.
Irene glaubte, seine Identität zu kennen. Zwar hatte sie ihn nicht gesehen, sondern nur seine Stimme gehört, aber sie war sich ziemlich sicher.
Und trotzdem hatte Jacob Zweifel. Dieser Mann mußte längst tot sein!
»Laß uns unter Deck gehen, Jacob«, sagte eine helle Stimme ganz in der Nähe des jungen Deutschen. Sanft legte sich eine schmale Hand auf seinen Arm.
Für eine Sekunde dachte er an die schöne Chinesin Wang Shu-hsien, mit der er die Freuden der Liebe genossen hatte. Aber sie war nicht auf der FRISCO QUEEN. Außerdem hatte die Frau Deutsch gesprochen.
Er drehte sich um. Irene stand neben ihm und blickte ihn voller Mitgefühl an.
»Kann ich etwas für dich tun, Jacob?«
»Ja.« Er sah die Gefährtin der langen Reise von Hamburg nach New York und quer durch den nordamerikanischen Kontinent ernst an. »Paß immer gut auf dich und Jamie auf! Solche Angst wie in den letzten Tagen möchte ich nicht noch einmal durchstehen.«
»Du sprichst wie ein Familienvater, der sich um die Seinen sorgt.«
Jacob überlegte, ob er Irene sagen sollte, wie gern er Jamies Vater - und Irenes Mann - gewesen wäre.
Aber ein dunkelhäutiger Steward im weißen Jackett kam auf sie zu und sagte: »Wenn ich die Herrschaften stören darf. Senator Basehart läßt ausrichten, das Essen ist bereit.«
»Eine ebenso höfliche wie eindeutige Einladung«, meinte Irene. »Wir sollten ihr nachkommen.«
Sie folgten dem Steward über das Deck.
Die FRISCO QUEEN hatte inzwischen den Anker gelichtet und langsame Fahrt aufgenommen. Dünne Rauchfahnen wehten aus den beiden blau-weiß-rot gestrichenen Schornsteinen, und die leuchtend roten Schaufelräder drehten sich ebenso gleichmäßig wie gemächlich. Die schlanke Yacht hielt auf das Golden Gate zu.
Der große Cunard-Dampfer hatte das goldene Tor längst durchfahren und war in der Bucht verschwunden.
Als die beiden Auswanderer die Treppe betraten, die unter Deck führte, sagte Jacob: »Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen.«
»Was meinst du?« erkundigte sich Irene.
»Die Suche nach Carl... Carl Dilger. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wo er sich aufhält. Louis Bremer hat uns angeschwindelt, als er uns zu ihm führen wollte.«
»Wir werden seine Spur finden!« erwiderte die blonde Frau mit einer Bestimmtheit, die Jacob erstaunte.
Glaubte Irene wirklich so fest daran? Oder machte sie ihrem Begleiter - und sich selbst - etwas vor?
Wollte sie den Vater ihres Kindes überhaupt finden? Denn das bedeutete die Trennung von Jacob und Irene.
»Wir haben fast kein Geld mehr«, äußerte der junge Zimmermann seine Bedenken. »San Francisco ist ein teures Pflaster. Es wird schwer für uns sein, uns hier über Wasser zu halten.«
»Das Boarding-House haben wir zum Glück für eine Woche im voraus bezahlt. Alles andere wird sich schon finden, Jacob.«
»Hoffentlich«, seufzte er.
Hätte Jacob nur für sich zu sorgen gehabt, hätte er alles nicht so schwer genommen. Doch die Verantwortung für Irene und Jamie lastete schwer auf ihm.
Der Speisesaal, in den Jacob und Irene vom Steward geführt wurden, hätte einem feudalen Landhaus zur Ehre gereicht. Vielleicht wäre er dort noch etwas größer ausgefallen, aber ansonsten wies nur das rote Tau, das netzartig unter der vertäfelten Decke aufgespannt war, darauf hin, daß man sich an Bord eines Schiffes befand; bei schwerem Seegang konnten sich die Passagiere an dem Tau festhalten. Die Wände waren ebenfalls vertäfelt und mit großen Gemälden geschmückt, die durchweg maritime Szenen zeigten.
An dem länglichen Tisch warteten Senator Basehart, der Kapitän Herbert Clarke und Reverend Hume auf die beiden Deutschen. Clarke war ein sonnengebräunter Mittfünfziger von hagerer Gestalt. Sein von winzigen Fältchen durchzogenes Gesicht war von einem braunen, langsam ergrauenden Kinnbart umrahmt. Jacob fühlte sich bei seinem Anblick ein wenig an Piet Hansen erinnert.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte Jacob.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, entgegnete der am Kopfende des Tisches sitzende Senator. »Ich verstehe, daß Sie noch Zeit benötigten, um sich von Ihrem Freund zu verabschieden, Mr. Adler.« Er zeigte auf die beiden freien Plätze zu seiner Linken. »Nehmen Sie Platz und greifen Sie zu!«
Jacob und Irene setzten sich und bestaunten die vielfältigen Speisen, die den Tisch zierten. Was Basehart als >ein kleines Essen< bezeichnet hatte, hätten sie einen Festschmaus genannt.
Der dunkelhäutige Steward bediente sie. Die meisten Speisen waren Produkte des Meeres; Muscheln und Fisch, zubereitet als Salate oder warme Speisen. Dazu gab es frisch aufgebackenes Brot, heiße Kartoffeln und Weißwein.
»Ich baue den Wein selbst an«, verkündete Senator Basehart stolz. »Zwar gibt es eine Menge Snobs, die nur europäischen Wein trinken. Aber überzeugen Sie sich doch selbst, ob unter der Sonne Kaliforniens nicht gute Trauben reifen!«
Jacob war nicht Weinkenner genug, um das zu beurteilen. Außerdem war ihm nicht nach Essen und Trinken zumute. Zu tief saß noch die Trauer.
»Ich möchte verschiedene Dinge mit Ihnen besprechen«, sagte Basehart während des Essens. Dabei blickte er erst Reverend Hume und dann die beiden Auswanderer an. »Zum einen geht es um das Waisenhaus. Ihnen fehlen die Mittel zum Wiederaufbau, Reverend?«
»In der Tat«, antwortete Hume. »Die Spenden haben gerade zum Unterhalt ausgereicht und dazu, meine Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen. Ich weiß noch nicht, woher ich das Geld zum Wiederaufbau nehmen soll.« Er blickte Jacob an. »Zum Glück hat Mr. Adler sich bereit erklärt, seine Fähigkeiten als Zimmermann unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.«
»Sehr nobel.« Der Senator nickte anerkennend. »Aber können Sie es sich leisten, unentgeltlich zu arbeiten, Mr. Adler?«
»Eigentlich nicht. Aber in diesem Fall spielt das keine Rolle.«
»Reverend Hume, Sie haben gute, verläßliche Freunde«, meinte Basehart. »Ich würde mich glücklich schätzen, in Zukunft auch zu diesem Kreis zu zählen. Deshalb möchte ich den Wiederaufbau Ihres Waisenhauses finanzieren.«
Hume suchte nach Worten.
»Wieso.«
»Ich liebe diese Stadt, trotz ihrer Laster und Fehler«, fuhr der Senator fort. »Ich habe mich stets nach besten Kräften für San Francisco und, in meiner Zeit als Senatsmitglied, für ganz Kalifornien eingesetzt. Alle Männer, die sich ebenfalls für San Francisco und seine Bürger einsetzen, verdienen meine Unterstützung. Sie sind solch ein Mann, Reverend. Sie kümmern sich selbstlos um diejenigen, die sonst kein Heim und keinen Halt hätten. Erlauben Sie mir, mich daran zu beteiligen!«