Plötzlich fiel Melnikow ein, daß er ja genauso gehandelt hatte.
Dabei wußte er alles, wußte es aus eigener Erfahrung. Er wurde rot vor Scham. Anderen vorzuwerfen, was man selbst nicht besser gemacht hatte! Wie gut, daß er stumm geblieben war.
„Die beiden Raumschiffe fliegen mit einer Geschwindigkeit von zweiunddreißig Kilometern in der Sekunde. Genauer gesagt: zweiunddreißig Komma vier eins.“ Das war der alte Belopolski! Knapp und präzise.
Was mochte nur mit ihm sein?
Und zum erstenmal kam Melnikow der Gedanke: Ob es unseretwegen ist? Ob unser vermeintlicher Tod das alles bewirkte?
„Bei Richtungsänderung wird ein frei schwebender Mensch mit großer Gewalt weggeschleudert. Mit einer einfachen Leine ist es da nicht getan. Leider kannten wir vorher nicht die Besonderheiten des ›Phaetonen‹. Wir waren also sehr leichtsinnig.“
„Das Radargerät zeigt voraus nichts Gefährliches“, sagte Saizew beruhigend.
„Die Gefahr kann urplötzlich auftauchen. Wer weiß, auf welche Entfernung die Automaten des ›Phaetonen‹ reagieren.“ Aber da war Knjasew auch schon vor der Luftschleuse. Einen Augenblick später zeigte ein grünes Lämpchen am Steuerpult an, daß sich die Außentür hinter ihm geschlossen hatte.
„Jetzt erzähl, und zwar so ausführlich wie möglich“, sagte Belopolski mit seiner gewohnten Ruhe.
„Warten wir noch auf Knjasew.“
„Gut, dann erzählen wir als erste.“
„Warum habt ihr euch denn nochmals zur Verfolgungsjagd auf uns entschlossen?“ fragte Melnikow, nachdem Saizew kurz, aber eingehend von allen Vorfällen seit dem plötzlichen Start auf der Venus berichtet hatte.
Der Ingenieur hatte den Zustand Belopolskis mit keinem Wort erwähnt, aber Melnikow erriet vieles schon selber. Zu offensichtlich waren die Widersprüche in der Erzählung. Es kam so heraus, als ob die „SSSR-KS 3“, nachdem sie von der Erde alles über den „Phaetonen“ erfahren hatte, nicht sofort kehrtgemacht habe, sondern erst nach zwei Tagen. Das konnte nicht sein. Es gab keine Gründe, die eine derartige Verzögerung unter solchen Umständen gerechtfertigt hätten.
Die Absonderlichkeiten, die er an Belopolski bemerkt hatte, bestätigten nur Melnikows Vermutungen.
Melnikow sah Belopolski an und begegnete einem ungewöhnlich verlegenen, ja sogar zaghaften Blick. Da erfaßte ihn unendliches Mitleid mit diesem Menschen, der seinetwegen soviel durchgemacht hatte. Am liebsten hätte er seinen Lehrer auf der Stelle umarmt.
„Sie waren unter ständiger Beobachtung von der Erde aus“, antwortete Saizew. „Als sich herausstellte, daß der ›Phaetone‹ tagelang weder Flugrichtung noch Geschwindigkeit änderte, forderte Kamow uns auf, einen letzten Versuch zu unternehmen, uns ihm zu nähern. Diesmal gelang es. Aber warum haben Sie so oft den Kurs geändert?“
„Ende gut, alles gut, heißt es im Volksmund. Hätte uns die ›KS 3‹ sogleich eingeholt, hätten wir das Raumschiff der Phaetonen vielleicht wirklich seinem Schicksal überlassen, und das wäre ein großer Verlust für die Wissenschaft gewesen. Da wußten wir nämlich noch nicht, wie der ›Phaetone‹ gesteuert wird. Es hat alles sein Gutes.“ Belopolski ließ den Kopf sinken. Er begriff, das sollte Melnikows Antwort auf seine Bitte um Verzeihung sein.
„Jetzt sind wir auf Ihren Bericht gespannt“, sagte Saizew.
Er schaltete den Bildschirm ein, damit Toporkow im Funkraum ebenfalls zuhören konnte.
„Schießen Sie losl“ Unwillkürlich warfen die Besatzungsmitglieder der „SSSR-KS 3“ immer wieder Blicke auf den Bildschirm, als sei erst die Tatsache, daß das Raumschiff der Phaetonen unmittelbar neben ihnen lag, ein Beweis für die Realität dessen, was sie da hörten.
Aber alles, was Melnikow erzählte, war reine Wahrheit, war ebensowenig zu bezweifeln wie seine Anwesenheit im Steuerraum. Es war die Wahrheit über den Aufenthalt zweier Menschen in einer Welt der fernen Zukunft, eine ganz unwahrscheinliche Wahrheit, die jeder vernünftige Mensch zunächst für ein reines Produkt der Phantasie hielt.
Er erzählte von der Ernährung durch Luft, von der Steuerung mit Hilfe der Vorstellungskraft, von dem Metall, das sich in Nichts auflöste, von den unbekannten Apparaten, die „nach ihrem Willen“ Schlafen und Wachen des Menschen steuerten, vom selbständigen Manövrieren des Raumschiffes, von seiner Automatik, die es in den Weiten des Alls sorgsam schützte. Er erzählte von den Wänden, die auf Wunsch durchsichtig und wieder undurchsichtig wurden, von den „gläsernen“ Stegen, die ohne Stützen in der Luft schwebten, und von dem Steuerpult, in dessen verschiedenfarbigen Facetten rätselhafte Funken flimmerten, die erstarrten, sobald der Pilot im Sessel Platz nahm, als sähen sie ihn und gäben ihre Bereitschaft zu erkennen, seinem Willen zu gehorchen.
Nachdem Melnikows gedämpfte Stimme verstummt war, herrschte lange Schweigen.
Belopolski brach es.
„Du hast recht“, sagte er. „Das Raumschiff der Phaetonen muß um jeden Preis gerettet werden.“
„Befehlen Sie also, Konstantin Jewgenjewitsch!“ Wie ein Schatten legte es sich über das Gesicht des Akademiemitglieds. Melnikow hatte das Gefühl, Belopolski wolle etwas sagen, bringe es jedoch nicht über sich. Eine unbestimmte Ahnung beschlich ihn. Saizew biß sich auf die Lippen und wandte sich ab. Auch er ahnte, was jetzt kam.
Der Bildschirm erlosch. Wie wenn er das Weitere nicht hören wollte, hatte Toporkow ihn ausgeschaltet.
„Befehlen?“ sagte Belopolski kaum vernehmlich. „Dazu habe ich kein Recht mehr.“ Er gab sich innerlich einen Ruck. Nun sprach er laut und fest: „Ein neuer Kommandant ist an Bord gekommen. Einem Kommandanten aber befiehlt man nicht, von ihm nimmt man Befehle entgegen. Ich stehe zur Verfügung!“
„Konstantin Jewgenjewitsch!“ sagte Melnikow beschwörend.
„Wenn du willst, schick einen Funkspruch zur Erde. Kamow wird nur eine Antwort darauf haben.“ Er schwieg eine Weile.
„Um eines bitte ich dich. Überlaß mir die Ehre, den ›Phaetonen‹ zur Erde zu steuern. Vertrau Wtorow, Korzewski und mir diese Aufgabe an. Nur so kann ich mich rehabilitieren, wennschon nicht in den Augen der Menschheit, so doch in meinen eigenen.
Ich habe zu viele Fehler gemacht. Verbrecherische Fehler.“ Melnikow begriff, daß es sinnlos war, ihn umstimmen zu wollen. Er sah den Gesichtern der Kameraden an, daß ihnen Belopolskis Entschluß nicht überraschend kam. Aber so ohne weiteres brachte er es nicht fertig, den Befehl über das Raumschiff zu übernehmen.
„Schön! Ich werde bei Kamow anfragen. Soll er entscheiden.“
„Gehen Sie, bitte!“ sagte Belopolski.
Alle verstanden, daß das nicht nur Melnikow galt. Belopolski wollte, daß man ihn allein ließe.
„Ich mache mir große Sorgen um ihn“, sagte Saizew, nachdem sich die runde Tür zum Steuerraum hinter ihnen geschlossen hatte. „Womöglich…“
„Wer? Belopolski? Da können Sie beruhigt sein. Das ist ganz unmöglich. Ausgeschlossen! Aber erzählen Sie mir ausführlicher, was los war.“ Und während der Funkspruch durch das All zur Erde eilte, erzählten Saizew und Toporkow Melnikow alles.
Danach erwies sich Belopolskis Entschluß als natürlich und folgerichtig. Aber was würde Kamow antworten?
Sie mußten lange warten. Kamow mußte erst telefonisch verständigt und zur Funkstation geholt werden. In Moskau war es jetzt fünf Uhr morgens.
Endlich übermittelte die deutliche Stimme des Funkers die Antwort des Direktors des Kosmischen Instituts und des Vorsitzenden der Regierungskommission: „Hier ist Kamowsk. An Melnikow. Gratulieren zur glücklichen Befreiung aus phaetonischer Gefangenschaft. Übermitteln Sie der Besatzung der ›SSSR-KS 3‹ unseren Dank für ihre selbstlosen Bemühungen zur Rettung des Kommandanten und seines Begleiters. Die Entscheidung, daß Belopolski an Bord des ›Phaetonen‹ geht, halten wir für richtig. Überdenken Sie noch einmal die Frage, ob das phaetonische Raumschiff auf der Erde landen soll. Vielleicht ist es besser, zunächst eine Probelandung auf einem Himmelskörper mit geringerer Anziehungskraft auszufuhren. Zum Beispiel auf dem Mond. Die endgültige Entscheidung überlassen wir Ihnen. ›SSSR-KS 3‹ hat unmittelbar Kurs auf die Erde zu nehmen. Glückliche Heimkehr. Kamow. Woloschin. Achtung! Auf persönliche Bitte von Frau Melnikow übermittle ich folgenden Funkspruch: ›Bin glücklich. Küsse dich. Olga.‹ Ende.“