„Die Steine für das Wehr sind wahrscheinlich nicht vom Gebirge, sondern von der Küste geholt worden“, warf Balandin ein. „Aber mit welchen Mitteln hat man sie transportiert? Sie sind doch unwahrscheinlich schwer!“
„Und wie ist die Cheopspyramide erbaut worden? Auch beinahe mit bloßen Händen. Die Stromschnellen, richtiger — das Wehr ist vielleicht in Hunderten von Jahren entstanden. So, nun wollen wir wieder hinuntergehen, sonst überrascht uns noch ein Gewitter.“
„Sie versprachen, mir zu erläutern, warum die Bewohner des Waldes nicht hervorkommen würden“, sagte Balandin, während sie hinabstiegen.
„Es ist nur eine Vermutung, und zwar eine höchst fragwürdige. Ich habe mir überlegt, daß ein Tag und eine Nacht auf der Venus annähernd drei Wochen bei uns auf der Erde entsprechen. Also dauert ein Tag hier ungefähr zweihundertfünfzig Stunden und eine Nacht ebenso lange. Der Fluß mißt über zweitausend Kilometer in der Länge. Das Holz braucht sehr viel Zeit, um von der Quelle bis hierher zu treiben. Wir haben damals die schwimmenden Bäume entdeckt, als früher Morgen war. Jetzt ist Tag, und es sind keine zu sehen, oder besser noch nicht zu sehen. Sie schwimmen sicher irgendwo stromauf, noch ein Stück vor dem Wehr und werden erst gegen Abend hier eintreffen. Andererseits haben wir die Bewohner der Venus bisher kein einziges Mal gesehen. All das zusammen genommen, führt zu dem Schluß, daß die Venusleute bei Nacht arbeiten, wenn es nicht so heiß ist. Vielleicht sind sie überhaupt Geschöpfe, die nur bei Nacht lebendig werden und am Tage schlafen. Ich habe das Gefühl, diese Deutung könnte zutreffen“, schloß Melnikow.
Balandin überlegte.
„Es spricht einiges für Ihre Auffassung. Jetzt ist ungefähr Mittag und die Luft auf achtzig, neunzig Grad erhitzt. Es dürfte kaum anzunehmen sein, daß Lebewesen bei einer derartigen Hitze zu arbeiten vermögen. Sie haben wahrscheinlich in der Tiefe der Wälder Schutz gesucht, wo es kühler ist.“ Die Worte des Professors klangen zögernd. Melnikow bemerkte es.
„Sie scheinen nicht recht daran zu glauben?“
„Ich muß es glauben“, erwiderte Balandin. „Habe ich doch den Beweis vor Augen. Aber wenn ich offen sein soll — ich verstehe nicht, wie jemals Menschen auf der Venus entstehen konnten. Der Mensch erscheint als eine Schöpfung der Natur nicht sofort in vollendeter Gestalt. Er ist das Produkt der langen Entwicklung weniger vollkommener Organismen, die sich in Millionen und aber Millionen Jahren vollzieht. Das Leben hat in der Regel im Wasser seinen Ursprung und wechselt erst später aufs Land. Aber wie haben sich schwache und unentwickelte Geschöpfe hier auf dem Trockenen halten können?
Die klimatischen Bedingungen sind auf diesem Planeten sogar jetzt noch ungünstig. Früher waren sie noch schlechter. Und selbst wenn sich die Keime des Lebens dennoch auf dem Festland halten konnten — warum gibt es dann keine Tiere? Der Mensch oder ein ihm annähernd ähnliches Geschöpf kann nicht das einzige Lebewesen sein. Das widerspricht den Gesetzen der Biologie.“
„Ja…“ Melnikow nickte. „Was Sie sagen, überzeugt. Also wird uns hier ein zweites Rätsel aufgegeben. Die Schwierigkeiten wachsen von Stunde zu Stunde. Aber es wird Zeit, zum Raumschiff zurückzukehren. Unser Ausflug war äußerst ergebnisreich, und die Rätsel müssen wir alle gemeinsam lösen.“ Nach wie vor zeigten sich am Himmel keine Gewitterfronten, und die Männer konnten in aller Ruhe „Exponate“, Gesteinsproben und anderes sammeln. Balandin schnitt mit seinem Ultraschalldolch ein Stück von einem Baumstamm und mehrere Zweige mit Dornen ab.
„Es gilt zu ermitteln, wann die Stämme hier angelangt sind und wie lange sie im Wasser trieben“, sagte er. „Das wird uns helfen, festzustellen, ob unsere Vermutung stimmt oder nicht.“ Melnikow nahm mehrere Büschel Gras mit, gelbes, braunes und weißes. Außerdem wurden einige Zweige von einem Strauch und ein großes Stück Rinde von einem der gigantischen Bäume eingepackt.
Mit dieser Beute beladen, kehrten sie zu dem Unterseeboot zurück und trafen gerade in dem Augenblick ein, als Saizew meldete, die Luft weise zunehmende Ionisation auf.
Sobald alle an Bord gestiegen und die Luken hermetisch verschlossen waren, befahl Melnikow, abzulegen und zu tauchen.
Von Nordwesten her zog eine riesige Gewitterwolke herauf.
Die Prozedur der Einschleusung wurde bereits unter Wasser durchgeführt.
„Sie wollten doch ein Gewitter am Ufer abwarten…?“ Balandin konnte sich diese spöttische Bemerkung nicht versagen.
Melnikow antwortete nur mit einem Achselzucken.
Die Funkverbindung mit dem Schiff wurde hergestellt, als das Boot den Fluß schon hinter sich gelassen hatte und auf die hohe See hinausfuhr. Melnikow schilderte Belopolski ausführlich ihre Beobachtungen. Wie nicht anders zu erwarten, erregten die Neuigkeiten im Raumschiff großes Aufsehen. Die Fragen hagelten nur so. Die U-Boot-Fahrer hörten, wie Korzewski, dicht am Mikrofon stehend, um die Erlaubnis bat, nach Rückkehr des Bootes sogleich selbst zu den Stromschnellen fahren zu dürfen, und wie Belopolski antwortete: „Wir werden mit dem Raumschiff dorthin fliegen.“ Die Funkorientierungssignale erreichten die Männer im Boot sehr unregelmäßig. Trotzdem hielt Saizew einen geraden Kurs ein. Balandin und die anderen Genossen konnten nun, da besondere Eile nicht mehr geboten war, nach Herzenslust das Leben im Ozean beobachten. Sie fuhren sehr langsam und stoppten des öfteren.
Der Ozean der Venus wimmelte von Lebewesen. Über vierzig verschiedene Arten zählte der Professor. Viele von ihnen konnten fotografiert werden.
Voraus im hellen Scheinwerferlicht rührte sich nichts. Alle Lebewesen verließen schleunigst den Lichtkorridor. Aber achteraus und mittschiffs schwammen die Fische dicht an das Boot heran, weil sie offenbar von dem unbekannten bewegten Gegenstand angezogen wurden, den sie wohl für ein neues Tier hielten. Wenn plötzlich das Scheinwerferlicht aufflammte, erstarrten sie für einen Augenblick und verschwanden dann hastig ins Dunkel. In diesen Augenblicken konnten die Männer sie betrachten.
Die meisten Meeresbewohner glichen in ihrer Gestalt den Fischen der Erde.
„Darüber braucht man sich nicht zu wundern“, sagte Balandin. „In dem gleichartigen Milieu haben sich gleichartige oder fast gleichartige Organismen entwickeln müssen. Die Natur beschreitet stets den einfachsten Weg.“
„Warum fürchten sich diese Tiere so vor dem Licht?“ fragte Wtorow.
„Auch das ist zu verstehen. Es kann gar nicht anders sein“, antwortete der Professor. „Auf der Erde dringt das Sonnenlicht in das Wasser der Meere bis zu vierhundert Meter Tiefe ein.
Hier herrscht sogar unmittelbar an der Oberfläche fast völliges Dunkel. Die Sehorgane der Venusfische müssen bedeutend empfindlicher sein als die der Fische auf der Erde. Das Licht tut ihnen weh und erschreckt sie.“ Die Forscher entdeckten zahlreiche kleine schnelle Fische mit bläulichen Schuppen, nahe Verwandte der irdischen Weberfischchen. Matt phosphoreszierend jagten zwischen ihnen lange schmale Körper dahin, die Balandin auf der Erde als Myxine[6] klassifiziert hätte. Die Astronauten entdeckten mehrere Lebewesen, die den Rochen der Erde verblüffend glichen: Seeadler, deren Schwimmflossen Flügelgestalt besaßen und deren Schwanz dünn und lang war, sowie gleichsam zusammengeknüllte störähnliche Rochen. Einmal erblickten sie beim Aufflammen des Scheinwerferlichts unmittelbar vor sich ein stumpfes Maul, das Ebenbild eines gewöhnlichen Rundmaules — allerdings mit drei anstatt mit zwei Augen. Ein andermal starrte sie der häßliche, mit scharfen Zähnen bewehrte Kopf eines „Chauliods“ an, auch er mit drei Augen besetzt.
6
Myxine gehöre» zur Gattung der Inger. Rundmäulige, aalähnliche, aber flossenlose Tiere, die sich in andere Fische einbohren und sie bis auf Haut und Skelett auffressen.