Der Minutenzeiger schien sich in den Stundenzeiger verwandelt zu haben und kroch unerträglich langsam über das Zifferblatt.
Neunzig Minuten war Knjasews Fahrzeug schon unter Wasser.
Da geschah, was auf der Venus nicht ausbleiben konnte. Der zierliche Zeiger des Ionometers erzitterte.
„Schwimmwagen! Schwimmwagen!“
„Ich höre“, antwortete Wtorow.
„Ein Gewitter zieht auf! Sofort ans Ufer! So schnell wie möglich!“
„Wir kommen!“ Ob sie es schafften? Der Zeiger des Barometers schien rasch zu steigen …
Als Korzewski und Romanow hörten, daß ein Gewitter nahte, zogen sie sich vom Wasser zurück und blieben in der Nähe des Geländewagens. Sie waren entschlossen, bis zuletzt auf ihrem Posten zu bleiben und nicht einzusteigen.
Vom Raumschiff aus wurde pausenlos angefragt, ob der Amphibienwagen schon aufgetaucht sei. Wtorow meldete, daß sie mit äußerster Kraft führen. Die „Schildkröten“ verfolgten sie nicht.
„Auf dem Grund des Sees halten sich sehr viele von ihnen auf“, sagte er.
Bald darauf brach die Funkverbindung ab. Also war das Gewitter schon ganz nahe.
Der Amphibienwagen war noch nicht aufgetaucht.
Hinter dem Wald zuckte der erste Blitz auf. Der erste Donnerschlag krachte, „Steigt sofort ein!“ sagte Andrejew.
„Einen Augenblick noch!“ antwortete Romanow, ohne den See aus den Augen zu lassen.
Da leuchtete in der Ferne, fast am gegenüberliegenden Ufer, ein Fleck auf, der rasch heller wurde. Ein Scheinwerferstrahl schoß aus dem Wasser.
Die Männer an Land erkannten das weiß schäumende Kielwasser, das mit hoher Geschwindigkeit näher kam.
Schneller! Noch ein paar Sekunden …
Die Wucht der herabstürzenden Wassermassen warf Romanow zu Boden. Korzewski konnte gerade noch in die offene Tür tics Geländewagens springen.
Dichter Nebel hüllte das Ufer ein.
Die unterirdische Stadt
„Leben Sie wohl, Sinowi Serapionowitsch!“ sagte Belopolski.
„Leben Sie wohl!“ antwortete Balandin.
Sie hielten sich für verloren. Wie konnten sie sich gegen die Ungeheuer wehren, die ihren Geländewagen in den See trugen?
Belopolski unternahm einen letzten Versuch. Er schaltete den Motor ein, in der Hoffnung, die Seebewohner würden das Fahrzeug loslassen, aber die Raupenketten rührten sich nicht. Die Kräfte der „Schildkröten“ waren stärker als der Motor.
Die Männer hatten ein Gewehr bei sich. Es war mit Sprengpatronen geladen, und vielleicht hätte es sogar gegen solche Giganten etwas ausrichten können, aber es blieb ihnen keine Zeit, sich dieser Waffe zu bedienen.
Die vorderen Reptilien traten schon ins Wasser.
Plötzlich wurden sie von der Seite angeleuchtet.
Einen Augenblick sahen Belopolski und Balandin die Köpfe ihrer Entführer deutlich im Scheinwerferlicht vor sich.
Die „Schildkröten“ waren unglaublich häßlich. Drei riesengroße Augen, die im Licht ganz schwarz aussahen, und ein stark vorstehendes, gefletschtes Maul mit langen, spitzen Stoßzähnen, die zu beiden Seiten herausragten — mehr schien es in diesen „Gesichtern“ nicht zu geben. Es war die grimmige Visage eines blutgierigen Raubtieres. Der kahle, faltige Schädel endete dicht über den Augen. Keine Spur von einer Stirn.
Das heller werdende Scheinwerferlicht kam rasch näher. Die „Schildkröten“ rührten sich nicht, sie standen wie versteint.
Die beiden Sternfahrer wußten sehr wohl, was dieser Lichtstrahl bedeutete: Ihre Genossen eilten ihnen zu Hilfe.
Ein Funken Hoffnung glomm auf.
Sie sahen, wie sich die Reptile von dem Licht abwandten.
Balandin registrierte mechanisch, daß ihre Augen keine Lider besaßen und nicht geschlossen werden konnten.
Durch die Kabinenwand drang rasch anwachsender Lärm.
Der große Geländewagen war schon ganz nahe herangekommen.
Noch einen Augenblick — und er würde in voller Fahrt in die regungslose Gruppe hineinrasen.
Da stürzten sich die „Schildkröten“, ohne die Beute loszulassen, ins Wasser, als hätten sie sich plötzlich besonnen. Die Wellen schlugen über ihnen zusammen.
Der Hoffnungsfunke erlosch.
Die Venusianer schritten rasch in die Tiefe. Das matte Abendlicht wurde von undurchdringlichem Nebel abgelöst. Gelb funkelten die Augen der „Schildkröten“.
Belopolski stellte den Motor ab — er nützte ihnen nichts mehr.
Die hermetisch verschlossene Kabine ließ kein Wasser herein. Wenn die „Schildkröten“ den Geländewagen nicht zertrümmerten und die Fensterscheiben nicht anrührten, drohte den Menschen vorläufig keine Gefahr.
Sie merkten, daß der Grund des Sees steil abfiel. Immer weiter wurden sie in die finstere Tiefe getragen. Belopolski schaltete den Scheinwerfer ein. Sein Licht beleuchtete das Wasser weit voraus. Sie beobachteten, wie mehrere „Schildkröten“, die ihnen offenbar entgegenkamen, ins Dunkel flüchteten.
Plötzlich huschte etwas dicht vor ihren Fenstern vorüber. Ein furchtbarer Schlag traf den Wagen.
„Nun ist alles aus!“ sagte Balandin dumpf.
Ihre letzte Stunde schien gekommen. Die „Schildkröten“ wolllen anscheinend den Geländewagen zertrümmern. Bei ihren Riesenkräften würden sie dazu nicht viel Zeit brauchen.
Die Männer erwarteten, daß sogleich das Wasser in ihre Kabine eindringen würde. Aber es geschah nichts. Dem furchtbaren Schlag folgte kein zweiter.
Die eingetretene Finsternis erklärte alles. Die Reptilien hatten den Scheinwerfer eingeschlagen. Womit? Anscheinend mit einem Baumstamm. Das Licht war ihnen unangenehm gewesen, und sie hatten die Lichtquelle zerstört, den Wagen aber sonst nicht behelligt.
„Äußerst resolut!“ sagte Belopolski. „Allerdings auch flegelhaft.“ Er konnte sich nicht entschließen, den zweiten Scheinwerfer oder die Innenbeleuchtung einzuschalten.
Tn völliger Finsternis warteten die Männer, was weiterhin geschehen würde.
Die „Schildkröten“ trugen den Geländewagen immer weiter über den Seegrund. Der Wagen wiegte sich sacht in ihren Pranken.
„Warum schwimmen sie nicht?“ fragte Balandin.
„Sicherlich ist ihnen unser Wagen zu schwer.“
„Wir haben überhaupt noch keine schwimmen sehen.“
„Sie sind ja auch anders als unsere irdischen Schildkröten.
Vielleicht können sie gar nicht schwimmen.“
„Möglich.“ Die beiden Astronauten verspurten würgende Unruhe. Die Finsternis, die Ungewißheit und die Erwartung des Todes, der jeden Augenblick eintreten konnte, all das mußte sogar hart geprüfte Männer wie sie zermürben. Kein Mensch — und sei er noch so furchtlos — kann ungerührt seinem unnatürlichen Tode entgegensehen.
Die Minuten vergingen, aber die „Schildkröten“ äußerten keine gewalttätigen Absichten.
Wohin trugen sie den Geländewagen? Warum belasten sie sich so lange mit ihm? Die Gefangenen begannen sich zu wundern. Nach Belopolskis Rechnung hatten sie sich schon mindestens einen halben Kilometer vom Ufer entfernt.
Ebensoschnell wie am Anfang ging es weiter. Die Augen der beiden Männer gewöhnten sich allmählich an die Finsternis, und sie nahmen nun einen matten Schimmer wahr. Kein Zweifel, der Grund des Sees war beleuchtet. Aber womit und woher, konnten sie vorerst nicht ergründen. Verschwommen, wie im irdischen Sternenlicht, erkannten sie allmählich die Umrisse ihrer Umgebung. Sie stellten fest, daß nicht mehr fünf, sondern acht „Schildkröten“ ihren Wagen trugen. Ihre Augen strahlten wie gelbe Lampen. Doch nicht von ihnen ging dieses sonderbare Licht im Wasser aus!
Balandin bemerkte als erster zu beiden Seiten des Weges leuchtende Streifen. Da wußte er auf einmal, was es war.
„Sehen Sie dort!“ sagte er. „Es sind Baumstämme. Sie leuchten und erhellen den Seegrund.“ Er hatte sich nicht geirrt. Nun sah auch Belopolski, daß die Helligkeit tatsächlich von den ihnen schon bekannten Stämmen ausging. Sie lagen überall in ungeordneten Haufen und verbreiteten ein schwaches rosiges Licht. Der Wagen wurde gerade an einem ganzen Stapel solcher Baumstämme vorübergetragen, da erkannten die Männer deutlich den Seegrund. Orangefarbene Algen bedeckten ihn. Massen von „Schildkröten“ begleiteten ihre Artgenossen, die den erbeuteten Geländewagen trugen.