„Ich weiß“, schloß er seinen Funkspruch, „wie schwer es Ihnen fallen wird, diesem Befehl nachzukommen. Glauben Sie mir, auch uns wird es nicht leicht. Es ist aber notwendig. Wir dürfen nicht die ganze Besatzung aufs Spiel setzen. Der,Phaetone‘ scheint auf die Erde zuzusteuern. Das hat er freilich schon wiederholt getan. Die Regierungskommission neigt jetzt zu der Ansicht, das Raumschiff sei führerlos. Es fliege hin und her unter der Einwirkung der Automatik, die im Laufe der Jahrtausende ihre Funktionstüchtigkeit eingebüßt hat und nur noch ungenau arbeitet. Wären Melnikow und Wtorow noch am Leben, müßten sie wissen, daß wir sie von der Erde aus unbedingt bemerkt haben, und auf unsere Hilfe warten, statt hin und her zu jagen und die Rettungsarbeit zu erschweren. Ich persönlich vertrete nach wie vor eine andere Meinung, aber die Mehrheit ist zu diesem Schluß gelangt. Nehmen Sie also Kurs auf die Erde, Konstantin Jewgenjewitsch. Ich gehe auf Empfang.“ „Ihr Befehl wird ausgeführt“, antwortete Belopolski kurz.
Endlich konnte sich die Besatzung der „SSSR-KS 3“ von den Strapazen erholen, wenn auch mit Schmerz und Verzweiflung im Herzen.
Währenddessen beendete Melnikow ruhig und guter Dinge die Berechnung des neuen Kurses für den „Phaetonen“. Sie fiel allerdings sehr ungenau aus, da er die exakten Daten nicht kannte.
Mit welcher Geschwindigkeit flog beispielsweise ihr Raumschiff? Er wußte es nicht. Alle Orientierungspunkte waren so weit entfernt, daß er sie nicht einmal annähernd mit dem Auge bestimmen konnte. Sie hatten den Eindruck, unbeweglich im All zu hängen, und die Erde flimmerte als ein ferner Punkt.
Immerhin waren sie jetzt überzeugt, daß ihnen von diesem Punkt aus ein anderes Raumschiff entgegenflog, dessen Kommandant über alles Bescheid wußte.
„Wir müssen geradeaus fliegen“, sagte Melnikow. „Genau auf die Erde zu. Wenn die eingeschlagene Richtung auch falsch ist, macht das nichts. Das Raumschiff von der Erde kann dann frei manövrieren, bis es mit uns zusammentrifft. Wir erleichtern ihnen ihre Aufgabe, wenn wir immer geradeaus fliegen.“ „Und die Geschwindigkeit?“ fragte Wtorow.
„Wir wollen hoffen, daß unsere Geschwindigkeit nicht allzugroß und auch für ein irdisches Raumschiff erreichbar ist.“ „Wann können wir mit ihnen zusammentreffen?“ „Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls nicht früher als in acht bis neun Tagen.“ „So lange können wir durchhalten, selbst wenn uns die Phaetonen nicht mehr ernähren sollten.“ Wtorow starrte angestrengt durch die durchsichtige Wandung, als hoffe er über Dutzende von Millionen Kilometer hinweg das ersehnte Raumschiff zu erblicken, das ihnen Rettung brächte.
Nicht allzuweit von ihnen entfernt vollführte die „SSSR-KS 3“ gerade befehlsgemäß ihre letzte Wendung. Allerdings hätte Wtorow sie auch dann nicht ausmachen können, wenn er den starren Blick ein wenig nach rechts gerichtet hätte.
Auf der Erde aber wußte niemand, daß der „Phaetone“ seine Flugrichtung nicht mehr ändern würde!
Das Gesetz der Leere
Offenbar konnte man sich auf längere Zeit doch nicht von der „Luft“ ernähren. Melnikow und Wtorow verspürten zwar nach wie vor keinen Hunger, aber sie merkten, daß die gesteigerte Kraftfülle allmählich von einem Kräfteverfall abgelöst wurde.
Sie spürten ein unangenehmes Gefühl im Magen, das rasch zunahm und schließlich in Schmerzen überging. Ihre Energie verwandelte sich in Schlaffheit. Oft schliefen sie ganz plötzlich ein und erwachten nur mit Mühe wieder. Dieser Schlaf glich mehr einer krankhaften Bewußtlosigkeit als der normalen Ruhepause eines gesunden Menschen. Die Nahrung der Phaetonen wirkte nicht mehr.
„Vielleicht sind die Vorräte erschöpft“, vermutete Wtorow.
Das war möglich, aber es konnte auch etwas anderes sein.
Sie waren Menschen und keine Phaetonen. Ihr Magen wollte gefüllt sein, so hatte es die Natur nun einmal eingerichtet. Sie konnten nicht von gegenstandsloser Nahrung leben, wie gehaltvoll sie auch sein mochte. Es war überhaupt ein Wunder, daß die „Luft“ so viele Tage lang die Bedürfnisse ihres Organismus befriedigt hatte.
Auch Durst begann sie jetzt zu quälen. Er würde mit jeder Stunde zunehmen. Die Entfernung bis zur Erde aber war noch riesengroß. Sie wußten nicht einmal, mit welcher Geschwindigkeit sie flogen.
„Es steht schlecht um uns“, sagte Melnikow, „und um zur Venus zurückzukehren, ist es schon zu spät.“ Wtorow gab keine Antwort.
Die Wände der Abteilung waren geschlossen. Ringsum gab es sowieso nichts, was das Auge gefesselt hätte. Nur Sterne!
„Im leeren Raum zu hängen“ ermüdete unendlich.
Die beiden lagen regungslos in den Hängematten. Sie hatten keinen Gesprächsstoff mehr, verfielen zusehends in Apathie, in völlige Gleichgültigkeit allem gegenüber. Jedes Gefühl für die Zeit war verlorengegangen.
Nur einmal schreckte sie eine unerwartete Wendung des Raumschiffes aus ihrem Dämmerzustand. Die Wendung erfolgte gleitend und vorsichtig, aber für kurze Zeit trat Fliehkraft auf.
„Wahrscheinlich ist uns ein großer Meteorit entgegengekommen“, meinte Melnikow.
Schade, daß wir der Begegnung ausgewichen sind, dachte Wtorow. Unsere Qualen hätten wenigstens gleich ein Ende gehabt.
Und wieder herrschte Schweigen, verfielen sie in den seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen.
Selbst der Gedanke, daß sich durch die Wendung die Fluglichtung geändert haben könnte, kam ihnen nicht.
Der Zustand, in dem sie sich befanden, hätte zweifellos Melnikows Interesse erregt, wenn er noch eines klaren Gedankens fähig gewesen wäre. Der Hunger allein konnte ihr Gehirn unmöglich derart umnebelt haben. Doch auch Melnikow war alles gleichgültig.
Sie standen unter dem Einfluß einer unbegreiflichen und unerklärlichen Macht, die ihr Denken und Fühlen allmählich auslöschte. Langsam, aber sicher verfielen sie in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr zu geben schien.
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung befreite sich Melnikow plötzlich aus der Erstarrung und horchte.
Nein, es war keine Sinnestäuschung! Irgendwo klopfte hartnäckig etwas. Laut, leise und wieder lauter.
„Gennadi, hörst du?“ Wtorow öffnete die trüben Augen: „Alles verschwimmt.“ „Komm zu dir, Gennadi! Hör doch! Jetzt wieder.“ Nun klopfte es deutlich an einer anderen Stelle. Wie es schien, kam das Klopfen näher.
,Was ist das?“ Beide waren nun hellwach.
Das Klopfen horte auf. Dann ertonte es erneut und wieder an einer anderen Stelle.
Darin lag System. Die einzelnen Geräusche waren verschieden stark.
Lang, lang, kurz. Pause. Lang, kurz, kurz. Wieder eine Pause, lang. Eine längere Pause. Und wieder von vorn: Lang, lang, kurz…
„Das hört sich wie Morsezeichen an“, sagte Melnikow.
Wtorow schoß ein Gedanke durch den Kopf, der ihn förmlich elektrisierte.
„Vielleicht ist es das Raumschiff der Erde“, sagte er unsicher.
Und Melnikow blickte sich suchend um. Aber er fand nichts, womit er gegen die Wandung hätte klopfen können. Und wozu auch klopfen? Wenn das ein Mensch war, so befand er sich im luftleeren Raum, und dort gab es keine Schallübertragung.
„Die Wände!“ befahl er abgehackt.
Wtorow versuchte sich zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Zu verschlafen war er. Geradezu quälend wünschte er, sein Kopf möge wenigstens für einen Augenblick klar sein.
Und wieder offenbarte sich deutlich der ungeheure Vorsprung, den die Wissenschaft des Phaeton vor der irdischen besaß. Das ging schon über die Grenzen vorstellbarer Technik hinaus. Reiner Sauerstoff strömte plötzlich in ihre Lungen. Ein unbekannter Geruch, der entfernt an Salmiakgeist erinnerte, machte sich kurz bemerkbar. Und wie durch Zauberei wurden ihre Gedanken wieder klar. Keine Spur mehr des Zustandes halber Bewußtlosigkeit. Sie fühlten sich wie neugeboren.