Natürlich verwendete Iaja nicht den Ausdruck „Lichtjahr“. Er „sprach“ von der Zeit, die ein Lichtstrahl brauche, um von der Sonne zur Erde zu gelangen. Die Mitglieder der Wissenschaftlerkommission rechneten diese Angaben mit Hilfe von Rechenautomaten in Lichtjahre oder Parsec um.
Unterdessen hatte sich die Bevölkerung des Phaeton auf ein Fünftel ihrer ursprünglichen Zahl verringert. Aber auch das war noch sehr viel. Eine ungeheure Arbeit stand bevor.
Allmählich erstarb das Leben auf dem Phaeton. Tausende von Fabriken stellten sich auf den Bau von interstellaren Raumschiffen um. Eine Raumschiffflottille nach der anderen verließ unser Sonnensystem. Mit annähernder Lichtgeschwindigkeit trugen sie ihre Herren der neuen Heimat entgegen. Eine gigantische Arbeit wartete dort auf Generationen von Phaetonen.
Nach Iajas Worten waren in der ganzen Zeit dieser beispiellosen „kosmischen Evakuierung“ nur sieben Raumschiffe verlorengegangen oder vielmehr verschollen. Das zeugte von hervorragender Organisation und ausgezeichneter Technik. Wenn man bedenkt, daß es zu der Zeit noch eine halbe Milliarde Phaetonen gab, waren, selbst wenn jedes Raumschiff tausend Personen faßte, immer noch mindestens fünfhunderttausend Raumschiffe zu ihrem Transport nötig gewesen. Aber außer den Menschen mußten unbedingt auch noch die Minimalausrüstung für die künftigen Fabriken und vieles andere zur Wega gebracht werden, ohne die die bisherige Kultur und Zivilisation in der neuen Heimat nicht wiederaufgebaut werden konnte.
Iaja erzählte, die Evakuierung sei innerhalb von siebzig Phaetonenjahren erfolgt, das heißt siebzig Umläufe des Phaeton um die Sonne. Da seine Bahn jenseits der Marsbahn gelegen hatte, mußte ein Umlauf mindestens drei Erdenjahre gedauert haben (nach den Kleinplaneten, den Bruchstücken des Phaeton, zu urteilen, sogar noch länger). Also hatte die Bevölkerung des Planeten über zweihundert Erdenjahre lang unter den Bedingungen der pausenlosen Evakuierung gelebt. Jene, die als letzte die Wega erreichten, trafen die ersten schon nicht mehr lebend an.
Es war schwer, sich alle Einzelheiten dieser unwahrscheinlich schwierigen Operation vorzustellen. Mit angehaltenem Atem lauschten die zwölf Männer der leidenschaftslosen Stimme Iajas.
Stolz auf den Menschen, seinen Geist, seine Energie und seinen Willen erfüllte die Versammelten.
Je länger Iaja in seinem Bericht fortfuhr, um so deutlicher erstand vor den Zuhörern das ideale Bild der Phaetonen. Sie waren Menschen einer fernen Vergangenheit, aber zweifellos auch der Zukunft. Wie sie würden auch die Menschen der Erde einmal werden.
Der Zeitpunkt der Katastrophe war bereits sehr nahe gerückt.
Die Bahnen des Phaeton und des Jupiter lagen so dicht nebeneinander, daß bei der nächsten Opposition, bis zu der die Tage zu zählen waren, der Untergang drohte. Zu dieser Zeit befanden sich nur noch wenige Menschen auf dem Planeten. Lediglich die Besatzung der letzten Flottillen.
Was sahen sie um sich herum? Nichts als verödete Städte und Fabriken — leer und verlassen, sinn- und zwecklos geworden.
Die Stille des Todes herrschte überall.
Jahrtausendelang hatten Generationen von Phaetonen gewirkt. Und nun lag alles, was sie geschaffen hatten, die mannigfaltigen Früchte der Kultur und der Zivilisation, alles, was man nicht hatte mitnehmen können, stumm und zum Untergang verurteilt da.
Selbst Tiere gab es auf dem Phaeton nicht mehr. Einen Teil, die nützlichsten, hatte man in die neue Heimat mitgenommen, andere, die an Hochgebirgsklima gewöhnt waren, hatte man auf den Mars umgesiedelt und den Rest aus Mitleid getötet.
Es muß noch erwähnt werden, daß die vorläufig in der alten Heimat Gebliebenen fast nichts von dem wußten, was auf dem neuen Phaeton vor sich ging. Nur einmal während der ganzen Evakuierungszeit kehrte ein Raumschiff zurück. Hundert Erdenjahre dauerte die Reise in beiden Richtungen, und das, obwohl das Raumschiff mit annähernder Lichtgeschwindigkeit flog. Für die Besatzungsmitglieder eines solchen Raumschiffs verkürzte sich die Zeit nach dem Gesetz der Relativitätstheorie zwar stark, so daß sie nur einen unbedeutenden Teil ihres Lebens unterwegs waren, für jene auf dem neuen und alten Phaeton aber war die Zeit ihren gewohnten Gang gegangen. Daher unternahm man solch einen Flug auch nicht ohne zwingende Notwendigkeit.
Die Phaetonen flogen zur Wega, ohne zu wissen, was sie dort erwartete; sie verließen sich ganz auf jene, die vor ihnen dort eingetroffen waren.
Schließlich war die letzte Flottille gestartet und hatte unser Sonnensystem verlassen. Nur ein kleines Raumschiff mit acht Wissenschaftlern blieb auf dem Phaeton zurück. Sie hatten den Auftrag, die Katastrophe zu filmen und die Arbeiten am Aufbewahrungsort auf der Erde abzuschließen.
Die Phaetonen kannten das Leben auf unserem Planeten gut.
Sie wußten, daß die Menschheit der Erde ihnen in ferner Zukunft in allem ähnlich werden würde. Da war es ganz natürlich, daß sie auf den Gedanken kamen, den künftigen Generationen der Erdenmenschen Kunde von ihrer Existenz zu hinterlassen.
Es lockte sie der Gedanke, einmal, wenn auch erst in ferner Zukunft, Verbindung mit den Brüdern in der früheren Heimat zu bekommen. Denn im weiteren Sinne war für alle Phaetonen unser Sonnensystem die Heimat. Die Sonne blieb für sie stets die unfreiwillig verlassene Mutter.
Iaja war der Kommandant dieses letzten Raumschiffes gewesen. Nach Erfüllung seines Auftrags sollte er ebenfalls Kurs auf die Wega nehmen.
Doch das Schicksal hatte es anders gewollt.
Die letzten acht Phaetonen konnten unser Sonnensystem nicht mehr verlassen. Ihnen war es bestimmt, hier zu sterben.
Das Unglück geschah, als die Phaetonen auf der Erde weilten.
Mit Hilfe leistungsstarker optischer Geräte beobachteten die acht Wissenschaftler den Untergang ihres Planeten. Sie sahen, wie die mächtige Anziehungskraft des Jupiter den Phaeton auseinanderriß.
Es war die Geburtsstunde des Asteroidengürtels.
Ein Teil der Bruchstücke raste auf die Sonne zu. Auf ihrem Wege kreuzten sie auch die Bahn unseres Planeten. Ein Hagel von Meteoriten stürzte auf die Erde und ihren Trabanten. Ein riesiges Trümmerstück bohrte sich unmittelbar neben dem Raumschiff der Phaetonen in den Boden. Eine heftige Detonation erschütterte die Luft.
Als die betäubten Phaetonen wieder zu sich kamen, sahen sie, daß eine der Abteilungen ihres Schiffs zerstört war. Gerade jene, in der sich die „Treibstoffvorräte“ zur Erzielung annähernder Lichtgeschwindigkeit befunden hatten.
Nun waren sie also dazu verurteilt, für immer in Sonnennähe zu bleiben. Mit dem gewöhnlichen, für interplanetare Flüge bestimmten „Treibstoff“ zur Wega zu fliegen war völlig sinnlos.
Solch ein Flug hätte Jahrtausende gedauert.
Auf die Hilfe anderer Phaetonen konnten Iaja und seine Gefährten nicht rechnen — sie waren nicht das erste Raumschiff, das im Laufe der Evakuierung verschollen war.
Der Schlußakt ihrer Tragödie begann.
Die acht Phaetonen ertrugen den unerwarteten Schlag offenbar mannhaft. Ihren Auftrag, den Erdenmenschen Kunde von sich zu hinterlassen, erfüllten sie exakt, so gut, wie es in ihren Kräften stand.
Das Bruchstück des Phaeton hatte ihnen nämlich nicht nur die Möglichkeit geraubt, die neue Heimat zu erreichen, es vernichtete auch vieles von dem, was für die Menschen bestimmt gewesen war. Darunter alle „Filme“.
So blieb den Phaetonen nur eine Möglichkeit: Sie „filmten“ Iaja, legten seine Darstellung in einen vereinfachten Apparat ein, montierten eine „sprechende“ Maschine und flogen, nachdem sie den Aufbewahrungsort fest verschlossen hatten, zur Arsena und schließlich zur Venus.
Darüber, wie die Phaetonen es fertiggebracht hatten, ihr Raumschiff zu reparieren, sagte Iaja nichts.
Nachdem der Phaetone verstummt war und regungslos vor den Menschen stand, als warte er auf weitere Fragen, schwiegen die versammelten Menschen lange. Der Bericht hatte sie erschüttert. Jeder von ihnen dachte unwillkürlich, was wäre, wenn der Erde das Schicksal des Phaeton drohte. Wären auch die Menschen imstande, die notwendigen Rettungsmaßnahmen diszipliniert und einträchtig durchzuführen? Aus Iajas Bericht war ersichtlich, daß die Phaetonen wie eine große Familie gelebt hatten, daß sie gemeinschaftlich und nach einem einheitlichen Plan vorgegangen waren. Deswegen hatten sie auch über die Kräfte der Natur gesiegt. Was würde in gleicher Situation auf der Erde geschehen?