Viele, auch Melnikow, glaubten, der polnische Gelehrte sehne sich nicht im geringsten nach der Erde und denke gar nicht an sie. Jedoch die vergangene Nacht hatte alle eines Besseren belehrt. Empfände der Biologe keine Sehnsucht nach der Erde, hätte ihn die überraschend vorgetragene Lyrik wohl nicht so tief beeindruckt.
Um einen Menschen kennenzulernen, braucht man Zeit, dachte Melnikow. Früher habe ich über Belopolski auch ganz anders gedacht als jetzt.
Er fühlte, daß Korzewski und Wtorow ihm nähergekommen, verständlicher geworden waren nach dieser im Grunde unbedeutenden Episode.
Sobald die Sonnenstrahlen die drei Männer auf dem Felsen erreicht hatten, stellten diese die nun überflüssige künstliche Heizung ab und gingen weiter.
Wieder hieß es springen, in Felsenspalten hinabsteigen und alles gründlich untersuchen, was ihnen in den Weg kam.
Nach anderthalb Stunden langten sie am Rande einer steilen Schlucht an. Auf ihrem Grunde, in einer Tiefe von fünfhundert Metern, breitete sich eine runde Talsohle, die größer war als alle bisher entdeckten. Aus der furchteinflößenden Höhe wirkte sie eben und glatt.
„Dort werden wir wohl nicht hinunterspringen können“, sagte Wtorow.
„Warum nicht?“ widersprach Melnikow. „Ohne weiteres können wir auch hier springen. Diese Tiefe entspricht etwa zwei Metern auf der Erde. Die Fallgeschwindigkeit wird am Ende des Sprunges sechs Meter pro Sekunde nicht übersteigen. Die Frage ist bloß, wie wir wieder heraufkommen. Seht einmal genau hin: Der Talkessel ist rings von Steilwänden eingefaßt.
Nicht wahr, er gleicht einem gigantischen künstlichen Brunnen.“ „Ja, wirklich“, pflichtete Korzewski ihm bei. „Eine bemerkenswerte Laune der Natur. Aber wenn wir auch, wie Sie sagen, zwei Meter in die Tiefe springen können, so wird es doch niemand von uns fertigbringen, ebenso hoch zu springen.“ „Sollen wir etwa hier abziehen, ohne diesen seltsamen Brunnen untersucht zu haben?“ Wtorow beugte sich vor und spähte auf den Grund der Schlucht hinab. Da es auf dem Asteroiden keine Luft gab, konnte man auch in der Ferne ideal sehen. „Dort sind so eigentümliche Vorsprünge. Merkwürdige Formen.“ Melnikow sah genauer hin. Er hatte gute Augen und erkannte deutlich Umrisse, die an Ruinen erinnerten.
„Schade, daß wir keine Ferngläser haben“, sagte er. „Dort ist tatsächlich etwas Besonderes.“ „Die Schnur reicht nicht“, stellte Korzewski fest.
Als sie zu ihrer Erkundung aufgebrochen waren, hatten sie vier Knäuel Schnur mitgenommen, jedes etwa achtzig Meter lang.
„Geben Sie mir Ihre Hand“, bat Wtorow.
Er beugte sich weit über den Rand des Steilhangs vor. Ohne große Anstrengung konnte Melnikow seinen fast gewichtlosen Körper halten.
Ganz in der Tiefe erblickte Wtorow, was er suchte. Die Wand war nicht ganz glatt, in halber Höhe zog sich ein steinernes Gesims entlang.
„Genau das, was wir brauchen“, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. „Auf der Erde konnte ich mit Anlauf ohne weiteres anderthalb Meter hoch springen. In diesem Anzug hier bin ich zwar schwerer, aber ich denke, einen Meter werde ich trotzdem schaffen. Das entspräche einer Höhe von zweihundertfünfzig Metern. Das genügt.“ „Sehr gewagt“, sagte Melnikow.
„Wieso, Boris Nikolajewitsch? Nehmen wir an, es gelingt mir nicht, wieder herauszukommen. Dann gehen Sie beide zum Schiff zurück und holen ein langes Seil. Wenn Sie sich beeilen, brauchen Sie dazu nicht mehr als zwei Stunden.“ „Was wollt ihr machen?“ fragte Belopolski vom Schiff aus.
Melnikow berichtete, wobei er besonders auf die seltsame Form der Steine hinwies, die sie Ruinen ähnlich machte.
„Was sagtet ihr, wie tief ist es dort?“ „Nicht mehr als fünfhundert Meter.“ „Gut!“ entschied Belopolski. „Versuchen Sie es!“ Sie banden den Sack mit den Gesteinsproben an das Ende der Schnur des ersten Knäuels. Hielte sie diese Last, würde sie auch einen Menschen, zumal einen so schlanken wie Wtorow, halten. Er wog mit Planetenanzug nicht mehr als siebenhundert Gramm.
Der Sack sank in die Tiefe. Als das erste Knäuel abgewickelt war, verknüpften sie es mit dem Ende des zweiten. Auch noch das vierte wurde zur Hälfte benötigt, dann legte sich der Sack auf das Sims.
„Annähernd dreihundert Meter“, sagte Melnikow. „Selbst wenn die Schnur reißen sollte, bestünde keine Gefahr, daß Sie zerschmettert würden.“ „Wird schon klargehen, Boris Nikolajewitsch.“ Sie hievten den Sack empor, und an seiner Statt wurde nun Wtorow angebunden. Die Filmkamera ließ er oben, den Fotoapparat nahm er mit.
Obwohl Melnikow wußte, daß es gar nicht besonders gefährlich war, aus der Höhe von einem halben Kilometer abzustür- 72 zen, verfolgte er aufgeregt, wie Korzewski Wtorow vorsichtig hinabließ. Ein Mensch konnte sich bei einem solchen Sturz zwar nicht die Knochen brechen, doch das Schauglas in seinem Helm konnte splittern. Das aber würde für ihn den sofortigen Tod bedeuten. Zwar war es kein Glas, trotzdem… Außerdem gähnte der Abgrund so schauerlich vor ihnen, daß den Menschen keinerlei vernünftige Erwägungen über den Unterschied zwischen der Arsena und der Erde halfen — ihnen wurde schwindlig, wenn sie tief, ganz tief hinab bis zum Fuß des Felsens blickten.
Der metallene Helm Wtorows versank in der Tiefe, wurde immer kleiner.
Als der Ingenieur unter sich das Steinsims fühlte, schaltete er die Sohlenmagneten ein, suchte festen Halt und band die Schnur los. Er spähte nach oben und erblickte seine Kameraden. Die dreihundert Meter hohe Wand über ihm schien bis zu den Sternen zu reichen. Die Sonne stand ihm unmittelbar zu Häupten, und er sah den Feuerkranz ihrer Protuberanzen. Durch den Anzug hindurch spürte er ihre sengenden Strahlen.
Wtorow hatte das Gefühl, um ihn herrsche eine besondere Stille, eine andere als oben. Ihn überfiel ein Gefühl beklemmender Einsamkeit. An die Wand geschmiegt, stand er minutenlang und versuchte, Herr seiner selbst zu werden. Die düstere, schwarzweiße Landschaft wirkte feindselig.
Warum sagen die anderen nichts? überlegte er.
Plötzlich hörte er von weit her Stimmen. Deutlich erkannte er Professor Balandin und hörte, wie Belopolski ihm antwortete.
Dann fragte Paitschadse bei Melnikow an, wie es vorwärts ginge. Boris Nikolajewitsch antwortete: „Wir seilen Wtorow immer noch ab.“ Deshalb also redeten Melnikow und Korzewski nicht miteinander. Sie waren fest davon überzeugt, daß er das Sims noch nicht erreicht hätte.
Wtorow betrachtete die Schnur. Sie glitt immer noch von oben herab und kringelte sich zu seinen Füßen. Korzewski hatte nicht bemerkt, daß sie keine Last mehr trug.
„Das dürfte wohl nicht ganz stimmen!“ sagte Wtorow, und mit dem lauten Worte streifte er sogleich die unbegreifliche Erstarrung von sich ab.
„Was sagten Sie, Gennadi Andrejewitsch?“ fragte Melnikow, der offenbar nicht verstanden hatte.
„Ich sagte, Sie fieren das Seil ohne Last. Merkt Stanislaw Kasimirowitsch denn nicht, daß ich schon auf dem Sims stehe?“ „Ist es von dort noch weit bis zum Grund?“ „An die hundertachtzig Meter. Ich springe!“ Das Gefühl beklemmender Einsamkeit war von ihm abgefallen. Die Landschaft der Arsena wirkte nicht mehr feindselig.
Die Stimmen der Kameraden hatten ihm Ruhe und Entschlossenheit wiedergegeben.
Das Sims war nicht so schmal, wie es von oben ausgesehen hatte. Es maß etwa zwei Meter. Wtorow trat vor und tat, ohne sich zu besinnen, einen Schritt ins Leere.
Er fiel länger als anderthalb Minuten. Immer schneller glitt die Wand des Abgrunds, die jetzt nicht mehr glatt, sondern mit Spalten durchzogen war, an ihm vorüber. Manchmal mußte er sich mit dem Bein von Felsgraten abstoßen, die ihm den Weg versperrten.
Er konnte den Talgrund deutlich erkennen. Sonderbar glatt wirkte er, wie mit Asphalt ausgegossen, und erinnerte an einen riesigen Stadtplatz. Allerdings umgaben ihn keine Häuser, sondern steile Felsen. In seiner Mitte türmten sich Steine, die immer stärker den Ruinen eines gigantischen Gebäudes glichen.