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Am nächsten Tag war Rosemary nicht mehr da.

Das Fernsehen zeigte mittlerweile schon wieder andere Bilder, alte Aufnahmen: Die Familie Stanford stand vor einer Kirche und beobachtete, wie ein Sarg auf den Leichenwagen gehoben wurde, und der TV-Ansager berichtete:»… Harry Stanford mit den Kindern neben dem Sarg… Als Grund für Mrs. Stanfords Freitod werden gesundheitliche Probleme genannt. Laut Informationen der Polizei hat Harry Stanford…«

Es war erneut finstere Nacht gewesen, als sein Vater ihn wachgerüttelt hatte.»Steh auf, Junge, ich hab eine schlechte Nachricht.«

Der vierzehnjährige Tyler begann am ganzen Körper zu zittern.

«Deine Mutter ist verunglückt, Tyler.«

Eine Lüge war es gewesen, denn der Vater hatte sie umgebracht; wegen seiner Beziehung zu Rosemary hatte die Mutter sich das Leben genommen.

Die Zeitungen waren voll gewesen von der Geschichte. Es war ein Skandal, der die Bostoner Gesellschaft in den Grundfesten erschütterte, und die Boulevardpresse schlachtete die Sache erbarmungslos aus. Es war absolut unmöglich, es den Kindern zu verheimlichen, und die Klassenkameraden machten ihnen das Leben zur Hölle. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten die Kinder die zwei Menschen verloren, die sie am meisten liebten, die ihnen alles bedeuteten. Und schuld daran war der Vater.

«Es ist mir ganz egal, daß er unser Vater ist«, schluchzte Kendall.»Ich hasse ihn.«

«Ich auch!«

«Und ich auch!«

Sie wollten von zu Hause weglaufen, wußten aber nicht, wohin. Und so entschlossen sie sich zur Rebellion.

Tyler bekam den Auftrag, im Namen aller mit ihrem Vater zu reden.»Wir wollen einen anderen Vater. Dich wollen wir nicht.«

Und Harry Stanford hatte ihn eiskalt gemustert und geantwortet:»Das läßt sich arrangieren.«

Drei Wochen danach waren die drei Geschwister voneinander getrennt und in verschiedenen Internaten untergebracht.

Den Vater hatten die Kinder in den darauffolgenden Jahren nur selten gesehen. Sie lasen von ihm in der Zeitung, oder sie sahen ihn im Fernsehen, in Begleitung hinreißend schöner Frauen oder im Gespräch mit berühmten Persönlichkeiten. Sie erlebten ihn immer nur bei besonderen» Anlässen«, an Weihnachten oder sonstigen Feiertagen und in den Ferien — und bei Fototerminen, damit Harry Stanford sich vor aller Welt als liebevoll sorgender Vater präsentieren konnte. Danach wurden die Kinder wieder in ihre Internate oder in getrennte Ferienlager geschickt — bis zum nächsten» Anlaß«.

Tyler stand völlig im Bann des Fernsehberichts, der Folge der Bilder von Firmen und Fabriken in mehreren Kontinenten, und immer wieder sein Vater.»… einer der größten Mischkonzerne der Welt in Privatbesitz. Harry Stanford, der dieses Wirtschaftsimperium geschaffen hat, war eine Legende… Was die Finanzexperten der Wall Street jetzt bewegt, ist die Frage: Was wird nach dem Tod des Firmengründers aus diesem Unternehmen in Familienbesitz? Harry Stanford hinterläßt zwar drei Kinder, doch ist bisher nicht bekanntgeworden, wer sein milliardenschweres Vermögen erbt oder die Konzernleitung übernimmt… «

Tyler war sechs Jahre alt und liebte es, durch das große Haus zu streunen und die vielen faszinierenden Räume zu erforschen. Es gab allerdings einen Raum, zu dem der Zutritt streng untersagt war: das Arbeitszimmer des Vaters. Tyler hatte verstanden, daß dort viele wichtige Zusammenkünfte stattfanden; denn dort gingen Männer von beeindruckender Erscheinung in dunklen Anzügen ein und aus. Doch gerade die Tatsache, daß hier der Zutritt verboten war, machte das Zimmer für Tyler unwiderstehlich.

Während einer Geschäftsreise des Vaters nahm Tyler eines Tages allen Mut zusammen und ging hinein. Es war ein riesengroßer Raum. Von dem Anblick überwältigt, blieb Tyler einen Moment ehrfürchtig stehen. Sein Blick fiel auf den immensen Schreibtisch und die Ledersessel des Vaters. Aber eines Tages wird’ ich in diesem Sessel sitzen, dachte Tyler. Eines Tages wird’ ich genauso bedeutend sein wie mein Vater. Er trat näher heran, bemerkte Dutzende von amtlich wirkenden Papieren, schlich sich hinter den Schreibtisch und nahm im Sessel des Vaters Platz. Er kam sich großartig und wunderbar vor. Jetzt bin ich auch wichtig!

«Verdammt, was machst du da?!«

Tyler fuhr erschrocken herum. An der Tür stand sein Vater, wutentbrannt.

«Wer hat dir erlaubt, an diesem Schreibtisch zu sitzen?«

Der zitternde kleine Junge begann zu stottern.»Ich… ich wollte doch nur sehen, wie das ist.«

Sein Vater stürzte auf ihn zu. »Du wirst nie erleben, wie das ist! Niemals! Und nun raus mit dir! Und bleib draußen!«

Tyler war nach oben gerannt und schluchzte hemmungslos, so daß ihm seine Mutter aufs Zimmer folgte und ihn tröstend in die Arme nahm.»Du mußt nicht weinen, mein Schatz. Es wird ja alles gut.«

«Es… wird nicht alles gut«, wimmerte Tyler.»Er… er haßt mich.«

«Nein, er haßt dich nicht.«

«Ich hab doch gar nichts verbrochen. Ich hab ja bloß auf seinem Stuhl gesessen.«

«Das ist aber sein Stuhl, mein Schatz. Auf dem darf niemand anders sitzen. Das mag er nicht.«

Er konnte nicht aufhören zu weinen, und seine Mutter hielt ihn eng umschlungen.»Bei unserer Heirat hat dein Vater mir erklärt«, sagte sie schließlich,»er wolle mir das Gefühl geben, daß ich Anteil habe an seinem Unternehmen, und er hat mir eine Aktie geschenkt. Es war so etwas wie ein Familienscherz. Diese eine Aktie schenk ich nun dir. Ich werde sie auf deinen Namen in einen Treuhandfonds übergeben, und damit hast du jetzt Anteil am Unternehmen, du gehörst dazu. Einverstanden?«

Da es insgesamt nur einhundert Stanford-Enterprises-Aktien gab, war Tyler also zum stolzen Besitzer von einem Hundertstel der Firma geworden.

Harry Stanford reagierte verärgert, als er von der Schenkung seiner Frau erfuhr.»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Was kann er denn mit der einen Aktie machen? Die Firma übernehmen?«

Tyler schaltete den Fernseher aus, blieb jedoch noch lange sitzen, um die Konsequenzen der Nachricht zu überdenken. Er empfand tiefe Befriedigung. Normalerweise war es so, daß Söhne erfolgreich sein wollen, um den Vätern eine Freude zu machen. Tyler Stanford dagegen hatte immer nur nach Erfolg gelechzt, damit er stark genug würde, seinen Vater vernichten zu können.

Als Kind hatte er einen immer wiederkehrenden Traum gehabt: Er träumte, daß seinem Vater wegen Mordes an der Mutter der Prozeß gemacht wurde und daß er, Tyler, über ihn zu Gericht saß und das Urteil sprach: Ich verurteile dich zum Tode auf dem elektrischen Stuhl! Der Traum variierte manchmal in dem Sinne, daß er seinen Vater zum Tod durch den Strick oder durch Erschießen verurteilte. Und jetzt, so jubelte Tyler, war der Traum beinahe in Erfüllung gegangen.

Die Militärakademie, auf die Tyler geschickt wurde, lag in Mississippi; und die vier Jahre, die er dort verbringen mußte, waren für ihn die reinste Hölle. Tyler haßte die strenge Disziplin und Lebensweise. Während des ersten Schuljahres dachte er mehrfach ernsthaft daran, sich das Leben zu nehmen, und was ihn letztlich davon abhielt, war der Gedanke, daß er seinem Vater damit nur einen Gefallen täte. Er hat meine Mutter umgebracht. Da darf ich doch nicht zulassen, daß er mich auch noch umbringt.

Tyler gewann den Eindruck, daß die Lehrer mit ihm ganz besonders hart umsprangen, und er war überzeugt, daß er das seinem Vater zu verdanken hatte, aber er biß die Zähne zusammen und hielt durch.

Während der Ferien mußte er nach Hause, ebenso sein Bruder und seine Schwester, es blieb ihm gar keine andere Wahl. Die Begegnungen mit dem Vater wurden von Mal zu Mal unangenehmer, und unter den Geschwistern kam nie ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, von Zuneigung oder Solidarität auf — solche Empfindungen hatte der Vater zerstört. Die drei waren einander fremd und warteten sehnlichst auf das Ende der Ferienzeit, damit sie das Weite suchen konnten.