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Tyler wußte natürlich, daß sein Vater mehrfacher Milliardär war. Aber Woody, Kendall und er bekamen nur ein äußerst bescheidenes Taschengeld — das ihnen obendrein aus dem mütterlichen Nachlaß zufloß. Im Lauf der Jahre fragte sich Tyler, ob er später rechtmäßig Anspruch auf das Vermögen des Vaters erheben könnte. Daß Woody, Kendall und er von ihm betrogen wurden, stand für ihn außer Zweifel. Ich brauche einen Anwalt. Er hielt es jedoch für völlig ausgeschlossen, daß er jemanden fände, der bereit sein würde, gegen Harry Stanford gerichtliche Schritte zu unternehmen. Daher war sein nächster Gedanke konsequent: Ich will Rechtsanwalt werden.

Als Harry Stanford von den Berufsplänen seines Sohnes erfuhr, spottete er:»Anwalt willst du also werden? Soso. Da gehst du vermutlich von der Annahme aus, daß ich dir bei den Stanford Enterprises eine Stellung verschaffe. Mach dir da nur keine falschen Hoffnungen, denn ich würde dich nicht mal in die Nähe meines Konzerns kommen lassen!«

Nach dem Jurastudium hätte Tyler als Anwalt in Boston praktizieren können; im übrigen hätten sich gleich Dutzende von Firmen glücklich geschätzt, ihn in den Vorstand zu berufen. Tyler zog es jedoch vor, die Nähe des Vaters gänzlich zu meiden und weit weg zu ziehen.

Er beschloß, in Chicago eine eigene Kanzlei zu gründen, und anfangs tat er sich schwer, weil er es ablehnte, aus seinem Namen Kapital zu schlagen, und Klienten Mangelware blieben. Im übrigen war es so, daß in Chicago alles über die» Maschine «lief, die einflußreiche Lawyers Association of Cook County im inneren Stadtbezirk — eine Tatsache, die Tyler ebenso rasch begriff wie den Vorteil, den es einem jungen Anwalt bringen müßte, sich diesem Juristenverband anzuschließen. Dank dieser Verbindung fand er eine Stellung im Büro des Staatsanwalts, und es dauerte nicht lange, bis Tyler, der einen scharfen Verstand und eine rasche Auffassungsgabe besaß, sich dort unentbehrlich gemacht hatte. Bei den Prozessen, in denen er Anklage erhob — und zwar wegen aller möglichen Verbrechen —, gab es eine unverhältnismäßig hohe Quote an Verurteilungen.

Er machte rasch Karriere und wurde für seine unermüdliche Arbeit schließlich mit der Ernennung zum Bezirksrichter von Cook County belohnt, ein prestigeträchtiges Amt im Zentrum Chicagos. Er hatte es weit gebracht und fand, nun hätte der Vater endlich Grund, stolz auf ihn zu sein — ein Irrtum, wie sich herausstellte.

«Du? Ein Bezirksrichter? Gütiger Himmel — dir würde ich ja nicht mal das Amt des Schiedsrichters in einem Bäckerwettbewerb anvertrauen!«

Richter Tyler Stanford war ein kleingewachsener, leicht übergewichtiger, schmallippiger Mann mit stechenden Augen und berechnendem Blick. Er besaß weder das Charisma noch die beeindruckende äußere Erscheinung des Vaters. Sein herausragendstes Charakteristikum war eine tiefe, sonore

Stimme — ein optimales Instrument für Urteilsverkündungen.

Als Mensch war Tyler Stanford schüchtern und zurückhaltend; niemand wußte, was er wirklich dachte. Er wirkte wesentlich älter als vierzig und war völlig humorlos — ein Mangel, auf den er stolz war, weil er das Leben als zu ernst empfand, um Leichtfertigkeit gutheißen zu können. Er hatte nur ein einziges Hobby, das Schachspiel, dem er einmal wöchentlich in einem örtlichen Klub nachging und jedesmal siegte.

Bei seinen Kollegen genoß Tyler Stanford hohes Ansehen, und sein Rat war gesucht. Daß er zu den Stanfords gehörte, wußte eigentlich keiner, denn seinen Vater erwähnte er nie.

Die Amtsräume von Richter Stanford lagen im großen Justizpalast von Cook County an der Ecke von Twentysixth und California Street, ein vierzehnstöckiges Gebäude mit einem breiten Treppenaufgang. Es stand in einer unsicheren Gegend, daher auch der Hinweis am Eingang: gemäss ANORDNUNG DES GERICHTS HABEN SICH ALLE EINTRETENDEN PERSONEN EINER DURCHSUCHUNG zu STELLEN.

In diesem Gebäude verbrachte Tyler seine Tage, hier saß er bei Verhandlungen wegen Einbruch, Vergewaltigung, Schießereien, Drogenmißbrauch und Mord zu Gericht. Er fällte unerbittlich strenge Urteile und galt als Richter, der mit der Todesstrafe rasch bei der Hand war. Den ganzen Tag lang hörte er sich an, was Angeklagte zu ihrer Entschuldigung an mildernden Umständen geltend machten — bittere Armut, Kindheitstraumata aufgrund von Mißbrauch und Mißhandlung, zerrüttete Elternhäuser und so weiter und so fort —, und ließ nichts gelten. Ein Verbrechen war ein Verbrechen und mußte als Verbrechen bestraft werden. Im Hintergrund seines Bewußtseins aber stand bei ihm stets der Vater.

Bei seinen Kollegen war über Tyler Stanfords Privatleben wenig bekannt. Man wußte wohl, daß er eine schwierige Ehe hinter sich hatte und nach der Scheidung allein lebte — in einem Fünfzimmerhaus an der Kimbark Avenue in Hyde Park, das im Stil des achtzehnten Jahrhunderts erbaut worden war, in einem Wohnviertel mit vielen schönen alten Häusern, denn Hyde Park war von der verheerenden Feuersbrunst verschont geblieben, die 1871 Chicago verwüstet hatte. Tyler hatte unter den Nachbarn keine Freunde; er lebte dort praktisch wie ein Unbekannter. Dreimal in der Woche kam eine Haushälterin, die Einkäufe erledigte er selbst, auf jene methodische Art und Weise, die seine ganze Lebensführung regelte. An jedem Samstagmorgen fuhr er für die nötigen Besorgungen entweder zu dem kleinen nahe gelegenen Einkaufszentrum Harper Court, zu Mr. G's Fine Foods oder zu Medici's an der Fiftyseventh Street.

Zu offiziellen Anlässen kamen Tylers Kollegen nebst Ehefrauen, die natürlich spürten, daß er einsam war, und ihn mit alleinstehenden Freundinnen bekannt machen wollten oder zu einem Abendessen zu sich einluden. Er lehnte jedesmal ab.

«An diesem Abend bin ich beschäftigt.«

Es hatte den Anschein, daß er immer beschäftigt war, doch niemand wußte, was er an den Abenden eigentlich machte.

«Tyler interessiert sich eben nur für die Rechtsprechung und sonst für gar nichts«, erklärte ein Richter seiner Frau.»Außerdem ist es für ihn noch zu früh, sich wieder um Frauen zu kümmern. Er hat gerade erst eine Ehe hinter sich, und die soll ja ganz schrecklich gewesen sein.«

Und damit hatte der Kollege durchaus recht.

Nach der Scheidung hatte Tyler sich geschworen, nie mehr eine feste Bindung einzugehen, aber dann war ihm Lee begegnet, und auf einmal sah alles ganz anders aus. Lee war nicht nur schön, sondern einfühlsam und liebevoll — genau die Art von Mensch, mit dem Tyler für immer und ewig Zusammensein wollte. Tyler empfand eine tiefe Liebe für Lee.

Aber warum sollte Lee, ein erfolgreiches Model mit Scharen von Bewunderern, von denen die meisten überaus wohlhabend waren — und Lee schätzte die schönen Seiten des Lebens —, ausgerechnet ihn, Tyler, lieben?

Tyler hatte es für hoffnungslos gehalten, um Lee zu werben, und im Vergleich mit den anderen Männern hatte er sich bei Lee keine Chancen ausgerechnet. Doch nun, nach dem Tod des Vaters, könnte sich über Nacht alles ändern. Er könnte plötzlich reicher sein, als er es sich in seinen wildesten Träumen ausgemalt hatte.

Jetzt war er in der Lage, Lee die Welt zu Füßen zu legen.

Tyler begab sich in das Amtszimmer des Gerichtspräsidenten.»Es tut mir leid, Keith, aber ich muß für ein paar Tage nach Boston verreisen. Familienangelegenheiten. Hättest du jemanden, der meine anstehenden Fälle übernehmen könnte?«

«Selbstverständlich. Ich werde es in die Wege leiten«, erwiderte der Gerichtspräsident.

«Ich danke dir.«

Am Nachmittag des gleichen Tages war Richter Stanford bereits nach Boston unterwegs. Während des Flugs fielen ihm die Worte ein, die ihm der Vater damals, an jenem furchtbaren Tag, an den Kopf geworfen hatte:»Ich weiß um dein schmutziges Geheimnis.«

Kapitel 9

In Paris goß es in Strömen, ein warmer Juliregen, der die Fußgänger schutzsuchend in die Hauseingänge trieb, unter Dachvorsprünge und Bäume, oder sie hielten verzweifelt nach einem Taxi Ausschau. Im Vorführungssaal des großen grauen Gebäudes an einer Ecke der Rue Faubourg St-Honore herrschte Panik. Ein Dutzend halbnackter Models rannte beinahe hysterisch durcheinander, während Platzanweiser unten im Saal noch ein paar Stühle aufstellten und Schreiner letzte Dekorationen festhämmerten. Alle schrien und gestikulierten gleichzeitig, und der Lärm war ohrenbetäubend.