«Sie sind zu groß.«
Kendall straffte sich.»Ich möchte gern mit der Person sprechen, die hier die Verantwortung hat.«
«Sie steht vor Ihnen. Ich bin die Eigentümerin des Ladens.«
Die nächsten Termine verliefen keineswegs erfolgreicher.
«Sie sind zu klein.«
«Zu mager.«
«Zu dick.«
«Zu jung.«»Zu alt.«
«Der falsche Typ.«
Am Ende der Woche wollte Kendall fast verzweifeln, denn auf ihrer Liste mit Agenturen stand nur noch ein einziger Name.
Bei Paramount Models, der Spitzenagentur in Manhattan, war die Rezeption nicht besetzt.
Aus einem Büroraum drang eine Stimme.»Am kommenden Montag wäre sie verfügbar, aber nur für diesen einen Tag. Sie ist für die folgenden drei Wochen fest gebucht.«
Kendall schlich zur Tür und lugte in den Raum — das Telefongespräch wurde von einer Dame im maßgeschneiderten Kostüm geführt.
«Gut. Ich werde sehen, was sich machen läßt. «Roxanne Marinack legte auf und hob den Blick.»Bedaure, Ihr Typ ist bei uns zur Zeit nicht gefragt.«
«Ich kann aber jeden Typ verkörpern, den Sie brauchen«, erwiderte Kendall mit dem Mut der Verzweiflung.»Ich kann größer oder kleiner sein, als ich bin. Jünger oder älter, dünner…«
Roxanne hob die Hand.»Aufhören!«
«Ich will doch nur eine Chance. Ich brauche eine Chance…«
Roxanne wartete. Die junge Frau hatte so etwas positiv Eindringliches an sich — und eine exquisite Figur. Nein, ausgesprochen schön war sie wirklich nicht, doch mit dem richtigen Make-up…»Haben Sie irgendwelche einschlägige Erfahrung?«
«Ja, ich habe mein Leben lang Kleider getragen.«
Da mußte Roxanne lauthals lachen.»Na schön, dann zeigen Sie mir mal Ihre Mappe.«
Kendall schaute sie verständnislos an.»Meine Mappe?«
Roxanne seufzte nachsichtig.»Mein liebes Kind — kein Model, das etwas auf sich hält, läuft ohne ein Portfolio herum.
Die Fotomappe ist Ihre Bibel. Sie enthält all das, woran Ihre prospektiven Kunden sich ein erstes Bild machen. «Roxanne stieß erneut einen Seufzer aus.»Besorgen Sie sich zwei Porträtaufnahmen — eines mit lächelnder, das andere mit ernster Miene. Und jetzt drehen Sie sich bitte einmal um.«
«In Ordnung. «Kendall drehte sich im Kreis.
«Langsamer. «Roxanne musterte sie kritisch.»Gar nicht so übel. Ich brauche ein Foto von Ihnen im Badeanzug oder in Unterwäsche — was immer Ihrer Figur mehr schmeichelt.«
«Ich bring Ihnen beide«, versprach Kendall beflissen.
Der Eifer entlockte Roxanne ein freundliches Lächeln.»Fein. Sie sind… ähm… irgendwie anders, aber wir könnten es ja mal versuchen.«
«Vielen Dank.«
«Danken Sie mir nicht zu früh. Es sieht leichter aus, als es in Wirklichkeit ist, als Model für Modezeitschriften zu arbeiten. Das ist ein harter Job.«
«Ich bin bereit, an mir zu arbeiten.«
«Wir werden sehen. Ich will es riskieren und nehme Sie zu einigen Schautreffs mit.«
«Verzeihung?«
«Auf einem Schautreff informieren sich unsere Kunden über alle neuen Models. Dort zeigen sich übrigens auch Models von anderen Agenturen, und da geht es so ähnlich zu wie auf einem Viehmarkt.«
«Damit werd’ ich schon fertig.«
So hatte alles angefangen. Kendall erschien auf einem guten Dutzend Schautreffs, bevor ein Designer Interesse bekundete, sie zum Vorführen von Kleidern einzusetzen, und bei dieser Gelegenheit war sie dermaßen verspannt, daß sie sich beinahe durch zu vieles Reden alles wieder verdarb.
«Ich finde Ihre Kreationen wirklich schön, ich glaube, sie würden mir auch gut stehen, das heißt, ich meine natürlich, sie würden allen Frauen gut stehen, die Entwürfe sind ja so herrlich, ich glaube aber, daß sie mir ganz besonders gut stehen würden. «Sie war so nervös, daß sie richtig ins Stottern kam.
Der Designer nickte mitfühlend.»Es ist Ihr erster Job, nicht wahr?«
«Ja, Sir.«
Er hatte tatsächlich gelächelt.»Gut. Ich werde es mit Ihnen versuchen. Wie heißen Sie noch?«
«Kendall Stanford. «Sie fragte sich, ob er wohl eine Verbindung zwischen ihr und den Stanfords erkennen würde; doch dazu bestand selbstverständlich keinerlei Anlaß.
Roxanne hatte recht gehabt: Das Leben eines Models war unglaublich hart. Kendall mußte damit leben lernen, daß sie bei ihren Vorstellungsterminen immer wieder abgelehnt wurde, daß ein Schautreff nach dem anderen ergebnislos verlief, daß sie wochenlang arbeitslos war. Und wenn sie Aufträge hatte, so war sie bereits morgens um sechs Uhr hergerichtet, absolvierte eine Fotoserie nach der anderen und war oft genug erst gegen Mitternacht wieder zu Hause.
Als sie nach einem solch langen Tag in der Garderobe in den Spiegel schaute, stöhnte sie auf:»Morgen werd’ ich nicht arbeiten können. Seht doch nur meine verschwollenen Augen!«
«Leg dir Gurkenscheiben auf die Augen!«riet eine Kollegin.»Oder du kannst auch Kamilleteebeutel in heißes Wasser tun, sie abkühlen lassen und anschließend für ein Viertelstündchen auf die Augen legen.«
Und wirklich — am nächsten Morgen sahen die Augen wieder frisch aus.
Kendall beneidete die Models, die ständig angefordert wurden. Sie konnte hören, wie Roxanne die Buchungen arrangierte.»Ursprünglich hatte ich Scaasi einen zweitrangigen Anspruch auf Michelle eingeräumt. Rufen Sie Scaasi an, und teilen Sie ihm mit, daß Michelle für den Termin jetzt definitiv verfügbar ist, das heißt, ich biete ihm die Möglichkeit, sie zu buchen…«
Kendall begriff sehr rasch, daß sie an den Kleidern, die sie vorführte, niemals Kritik üben durfte. Als sie einige Spitzenfotografen der Branche kennengelernt hatte, ließ sie für ihr Portfolio eine Fotoserie von sich machen. Sie kaufte sich eine Spezialtasche für Fotomodelle, die optimalen Platz für ihre Berufsausrüstung bot — Kleidung, Make-up, Manikürset und Schmuck. Sie fand heraus, wie man das Haar fönen muß, damit es mehr Volumen bekommt; und daß man dem Haar mehr Lockenpracht verleiht, wenn man angewärmte Wickler benutzt.
Es gab unendlich viel zu lernen. Die Fotografen — bei ihnen erfreute sie sich größter Beliebtheit — waren besonders hilfreich. Einmal nahm sie einer beiseite, um ihr einen Rat zu geben:»Kendall — reservieren Sie Ihr Lächeln stets für die letzte Aufnahme. Auf die Weise reduzieren Sie nämlich die Faltenbildung der Mundpartie.«
Kendall wurde zunehmend beliebter. Sie war kein typisches Fotomodell, kein arrogant-gestyltes Schönheitsideal wie die anderen, sie bot mehr — eine anmutige Eleganz.
«Sie hat Klasse«, bemerkte ein Werbeagent.
Er brachte es auf den Punkt.
Im übrigen war Kendall einsam. Sie hatte zwar immer wieder mal ein Rendezvous, fand jedoch niemanden, der ihr etwas bedeutete. Sie arbeitete unermüdlich und zielbewußt, litt aber unter dem Eindruck, daß sie ihrem eigentlichen Ziel nicht näher war als zur Zeit ihrer Ankunft in New York. Ich muß einen Weg finden, um mit den Topdesignern in Kontakt zu kommen, sagte sie sich.
«Ihre nächsten vier Wochen sind voll ausgebucht, Kendall«,
erklärte Roxanne.»Sie werden allseits geschätzt.«
«Roxanne…«
«Ja, Kendall?«
«Ich möchte nicht länger als Fotomodell arbeiten.«
Roxanne starrte sie ungläubig an.»Was sagen Sie da?«
«Ich möchte auf dem Laufsteg arbeiten.«
Dem Laufsteg galt der Ehrgeiz der meisten Models, denn bei Modeschauen Kleider vorzuführen — das war nicht nur die schönste, sondern auch die lukrativste Aufgabe, die es für ein Model gibt.
Roxanne schien gar nicht begeistert.»Es ist schier unmöglich, da Fuß zu fassen und…«
«Ich werde es schaffen.«
Roxanne musterte sie mit einem forschenden Blick.»Sie sind wirklich fest entschlossen, nicht wahr?«
«Ja.«
Roxanne nickte.»Also gut. Wenn es Ihnen damit ernst ist, müssen Sie zunächst einmal auf einem Balken laufen lernen.«