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Der Brief war ohne Unterschrift.

Kendall saß da wie vom Blitz getroffen und konnte den Blick nicht von dem Stück Papier lösen. Das wird nie mehr ein Ende nehmen, diese Erpressung wird nie mehr aufhören.

In dem Moment kam eine zweite Assistentin zu ihr ins Büro gestürzt.»Es tut mir ja so leid, Kendall, aber ich habe schlechte Nachrichten.«

Noch mehr schlechte Nachrichten halte ich nicht mehr aus, dachte Kendall müde.»Was… Was ist denn geschehen?«

«Es war in den Fernsehnachrichten. Ihr Vater… Er ist tot, er ist ertrunken.«

Es dauerte eine Weile, bis Kendall es fassen konnte, dann schoß ihr als erstes der Gedanke durch den Sinn: Was hätte ihn wohl mit größerem Stolz erfüllt? Mein beruflicher Erfolg von vorhin oder die Tatsache, daß ich eine Mörderin bin?

Kapitel 10

Obwohl Peggy Malkovitch schon seit zwei Jahren mit» Woody «Stanford verheiratet war, nannten die Einwohner von Hobe Sound sie noch immer:»diese Kellnerin«.

Peggy hatte im Restaurant Rain Forest Grill bedient, als ihr Woody zum ersten Mal begegnet war — Woody Stanford, der» goldene Junge von Hobe Sound«, Resident einer Familienvilla, ein Mann von klassisch schöner Erscheinung, charmant, gesellig, das Idol aller Mädchen der feinen Gesellschaft von Hobe Sound, Philadelphia und Long Island. Und so war es ein furchtbarer Schock, daß er urplötzlich eine nicht mal hübsche, fünfundzwanzigjährige Kellnerin ohne Schulabschluß ehelichte — die Tochter eines Tagelöhners.

Der Schock war um so größer, weil alle erwartet hatten, daß Woody die schöne, intelligente Mimi Carson heiraten würde, Alleinerbin eines großen Vermögens, die ihn abgöttisch liebte.

Im allgemeinen war es so, daß die feinen Leute von Hobe Sound sich lieber über Skandale ihrer Dienerschaft als über ihresgleichen aufregten; Woodys Fall aber fiel so aus dem Rahmen, und seine Heirat war etwas dermaßen Unerhörtes, daß sie eine Ausnahme machten, und bald machte ein Gerücht die Runde: daß er Peggy geschwängert und deswegen geheiratet hätte.

«Um Himmels willen, ich kann ja verstehen, daß der Junge was mit ihr hatte — aber eine Kellnerin heiratet man doch nicht!«

Die ganze Geschichte war ein klassischer Fall von deja vu. Es war etwa zwanzig Jahre her, daß die Stanfords in Hobe Sound einen ähnlichen Skandal verursacht hatten, als Harry Stanford die Gouvernante seiner Kinder schwängerte und seine Frau,

Emily Temple, Tochter einer amerikanischen Gründerfamilie, sich daraufhin das Leben nahm.

Woody Stanford machte kein Geheimnis aus der Tatsache, daß er seinen Vater von ganzem Herzen haßte — was zu der Vermutung Anlaß gab, daß er die Kellnerin nur aus Trotz heiratete; um zu beweisen, daß er anders und ehrenhafter war als sein Vater.

An der Hochzeit nahm nur ein einziger Gast teil, und der kam aus New York, nämlich Peggys zwei Jahre älterer Bruder Hoop, der in einer Bäckerei in der Bronx arbeitete — ein hochgeschossener, ausgemergelter Kerl mit pockennarbigem Gesicht und starkem Brooklyn-Akzent.

«Da kriegst du aber 'n tolles Mädchen von Frau«, erklärte er Woody nach der Feier.

«Ich weiß«, erwiderte Woody tonlos.

«Du wirst doch gut für sie sorgen, ja?«

«Ich werd mein Bestes tun.«

«Yeah. Okay.«

Ein wenig erinnerungswürdiges Gespräch zwischen einem Bäcker und dem Sohn eines der reichsten Männer der Welt.

Vier Wochen nach der Hochzeit verlor Peggy das Baby.

Hobe Sound war die exklusivste Wohngegend und Jupiter Island wiederum das exklusivste Wohnviertel von Hobe Sound. Die Insel wird im Westen vom Intracoastal Waterway und im Osten vom Atlantik begrenzt. Sie ist das Paradies für ein geschütztes Privatleben der Reichen; im Verhältnis zur Einwohnerzahl gibt es nirgends auf der ganzen Welt so viele Polizisten wie hier. Im übrigen hält man im superreichen Hobe Sound viel von Understatement — man fährt ein Auto der Mittelklasse und besitzt nur ein kleines Segelschiff, etwa eine sechs Meter lange Lightning oder eine acht Meter lange Quickstep.

Wer dieser Gesellschaft nicht durch Geburt angehört, muß sich den Anspruch auf Akzeptanz und Mitgliedschaft verdienen. Nach der Heirat Woodrow Stanfords mit» dieser Kellnerin «hieß die Preisfrage: Wie werden sich die Leute von Hobe Sound gegenüber der Braut verhalten?

Für solch strittige Fragen in Hobe Sound war Mrs. Anthony Pelletier zuständig, die es als ihre vornehmliche Lebensaufgabe betrachtete, die Gemeinschaft gegen Parvenüs und Neureiche abzuschotten. Frisch Zugereiste, die das Pech hatten, Mrs. Pelletier zu mißfallen, erhielten von ihr — durch ihren Chauffeur überbracht — einen Reisekoffer aus echtem Leder; das Signal, daß sie in der hiesigen Gesellschaft unwillkommen waren.

Mrs. Pelletiers Freundinnen erzählten gern die Geschichte von dem Kfz-Mechaniker und seiner Frau, die ein Haus in Hobe Sound erworben hatten. Als Mrs. Pelletier dem Ehepaar nach dem Einzug wie üblich einen Reisekoffer zustellte und die Frau erfuhr, was es mit dem Geschenk auf sich hatte, soll sie nur laut gelacht haben:»Wenn die alte Hexe meint, mich so einfach vertreiben zu können, hat sie nicht alle Tassen im Schrank!«

Dann mußte sie jedoch die seltsame Erfahrung machen, daß plötzlich die Handwerker keine Zeit mehr für sie hatten, daß das Lebensmittelgeschäft nie das auf Lager hatte, was sie gerade kaufen wollte; und es erwies sich als völlig unmöglich, beim Jupiter Island Club als Mitglied aufgenommen zu werden oder bei den besseren Restaurants am Ort eine Tischreservierung zu bekommen; außerdem sprach niemand mit den beiden. Und so verkauften der Kfz-Mechaniker und seine Frau ihr Haus drei Monate nach Erhalt des ledernen Reisekoffers wieder und zogen fort.

Aus ebendiesem Grund hielt die feine Gesellschaft sozusagen kollektiv den Atem an, als die Nachricht von Woodys Heirat bekannt wurde. Ein Verstoß von Peggy Malkovitch hätte ja auch den gesellschaftlichen Ausschluß ihres allseits beliebten

Ehemannes bedeutet, und so wurden klammheimlich etliche Wetten abgeschlossen.

In den ersten Wochen wurden Woody und Peggy nicht zu den Abendgesellschaften und anderen obligaten Veranstaltungen eingeladen. Da man Woody aber gern hatte und seine Großmutter mütterlicherseits immerhin zu den Gründungsmitgliedern von Hobe Sound zählte, siegte schließlich die Neugier, und einer nach dem anderen lud ihn und seine Frau privat ein: Man wollte die Braut kennenlernen.

«Das alte Mädchen muß ja was Besonderes haben, sonst hätte Woody sie doch nicht geheiratet.«

Da stand den Herrschaften von Hobe Sound nun allerdings eine herbe Enttäuschung bevor, denn Peggy war langweilig und ohne Anmut, eine Person ohne Ausstrahlung und ohne Schick.»Schäbig«- das war der Ausdruck, der ihnen in den Sinn kam.

Woodys alte Freunde waren ratlos.»Was findet er bloß an ihr? Und dabei hätte er jede haben können, die er wollte!«

Eine der ersten Einladungen kam von Mimi Carson. Die Nachricht von Woodys Heirat hatte sie tief getroffen, allerdings war sie viel zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.

Als ihre engste Freundin sie trösten wollte und sagte:»Schlag ihn dir aus dem Sinn, Mimi, du wirst schon darüber hinwegkommen«, hatte Mimi traurig erwidert:»Ich werde damit leben müssen, aber ihn vergessen — das schaff ich nie.«

Woody tat, was er konnte, damit es eine glückliche Ehe wurde. Er war sich sehr wohl darüber im klaren, daß er einen Fehler begangen hatte — nur wollte er auf jeden Fall verhindern, daß Peggy dafür büßten mußte, und er gab sich verzweifelt Mühe, ein guter Ehemann zu sein. Aber das war nicht das Problem; das Problem lag ganz woanders — daß es zwischen Peggy und ihm und auch seinen Freunden nichts Gemeinsames gab.

Es gab überhaupt nur einen Menschen, in dessen Gesellschaft sich Peggy wohl fühlte — bei ihrem Bruder, mit dem sie tagtäglich telefonierte.