Julia nahm die vergilbten Zeitungsausschnitte in die Hand, die Berichte über den Skandal, der sich vor langer Zeit in Boston zugetragen hatte, las die verblaßten, reißerischen Schlagzeilen:
LIEBESNEST IN BEACON HILL
SKANDAL UM MILLIARDÄR HARRY STANFORD
INDUSTRIELLENGATTIN BEGEHT SELBSTMORD
GOUVERNANTE ROSEMARY NELSON SPURLOS
VERSCHWUNDEN
Julia dachte lange über diese Zeugnisse einer fernen Vergangenheit nach.
Sie war im St.-Josephs-Krankenhaus in Milwaukee zur Welt gekommen. Ihre frühesten Erinnerungen waren triste, kleine Mansardenwohnungen und Umzüge, immer wieder Umzüge von einer Stadt zur anderen. Es hatte Zeiten gegeben, da sie kein Geld und kaum genug zu essen hatten, weil die Mutter ständig krank war und Mühe hatte, eine feste Arbeit zu finden. Julia hatte rasch begriffen, daß es nicht richtig war, die Mutter um neue Kleider oder Spielsachen zu bitten.
Als Julia mit fünf Jahren in die Schule kam, wurde sie von den Klassenkameradinnen verspottet, weil sie Tag für Tag dasselbe Kleid und immer dieselben verschlissenen Schuhe trug. Julia wehrte sich gegen die ewigen Hänseleien, reagierte mit Trotz und wurde regelmäßig zum Direktor bestellt — die Lehrer waren ratlos und wußten nicht, was sie mit ihr anstellen sollten. Sie verursachte ständig Probleme, und man hätte sie wahrscheinlich von der Schule verwiesen, wenn nicht eines für sie gesprochen hätte — sie war Klassenbeste.
Ihre Mutter hatte Julia erklärt, sie habe keinen Vater mehr, er sei tot, und Julia hatte das akzeptiert, bis sie, als Zwölfjährige, eines Tages zufällig ein Album mit Fotos entdeckte, auf denen
ihre Mutter mit fremden Menschen zu sehen war.
«Wer sind diese Leute?«hatte Julia wissen wollen.
Da hielt die Mutter den Zeitpunkt für gekommen, Julia alles zu erzählen.
«Setz dich, mein Schatz. «Sie nahm Julias Hand und hielt sie ganz fest. Sie konnte die Wahrheit nur direkt sagen; es gab keine Möglichkeit, sie ihrer Tochter schrittweise zu erzählen.»Das ist dein Vater, das dort ist deine Halbschwester, und die beiden Jungen sind deine Halbbrüder.«
Julia hatte die Mutter völlig verwirrt angeschaut.»Das verstehe ich nicht.«
Und so war die Wahrheit schließlich ans Licht gekommen und hatte Julias Seelenfrieden zerstört. Ihr Vater war noch am Leben, und sie hatte eine Halbschwester und zwei Halbbrüder! Es wollte ihr nicht in den Sinn.»Warum… warum hast du mich angelogen?«
«Du warst zu klein, um das verstehen zu können. Dein Vater und ich… wir hatten ein Verhältnis. Er war verheiratet… und ich mußte ihn verlassen, damit ich dich behalten konnte.«
«Ich hasse ihn!«rief Julia.
«Du darfst ihn nicht hassen.«
«Wie hat er dir das antun können?«wollte Julia wissen.
«Es war ja nicht nur seine Schuld. «Ihr tat jedes Wort weh.»Dein Vater war ein sehr attraktiver Mann, und ich war damals noch ein dummes junges Ding. Ich hätte wissen müssen, daß es für uns beide keine Zukunft gab, aber er hat mir erklärt, daß er mich liebt, gewiß… aber er war verheiratet, und er hatte Kinder. Und… dann bin ich schwanger geworden. «Das Sprechen machte ihr Mühe.»Ein Reporter bekam von der Sache Wind und brachte alles in die Zeitung, und da bin ich weggelaufen. Ich hatte zuerst vor, irgendwann zu ihm zurückzukehren, nach deiner Geburt, mit dir, doch seine Frau hat sich das Leben genommen, und ich… Danach konnte ich ihren Kindern nicht mehr in die Augen sehen. Es war doch meine Schuld, verstehst du. Deshalb darfst du ihm nicht die Schuld geben.«
Es gab da jedoch einen Aspekt bei der Geschichte, den sie Julia nicht erzählte. Der Standesbeamte hatte nach der Geburt des Babys gemeint:»Wir müssen die Geburtsurkunde ausstellen. Der Name des Babys lautet Julia Nelson?«
Rosemary hatte schon zustimmen wollen, aber dann hatte sie trotzig überlegt: Nein. Sie ist Harry Stanfords Tochter, und sie hat ein Recht auf seinen Namen und seine Unterstützung.
«Meine Tochter hat den Namen Julia Stanford.«
Anschließend hatte sie Harry Stanford geschrieben und ihm Julias Geburt mitgeteilt — aber nie Antwort erhalten.
Die Vorstellung, daß sie mit Leuten verwandt war, von deren Existenz sie nichts gewußt hatte, ließ Julia keine Ruhe; ebenso die Tatsache, daß ihre neuen Verwandten so berühmt waren, daß die Zeitungen ständig über sie berichteten. Und deshalb ging Julia in die öffentliche Bibliothek, um alles zu lesen, was sich über Harry Stanford finden ließ. Sie entdeckte zahllose Artikel über ihn. Er war Milliardär, und er lebte in einer anderen Welt, von der sie und ihre Mutter ausgeschlossen waren.
Als Julia eines Tages wieder einmal wegen ihrer Armut von den Klassenkameradinnen verhöhnt wurde, gab sie trotzig zurück:»Ich bin aber gar nicht arm! Mein Vater ist einer der reichsten Männer der Welt. Wir besitzen eine Jacht und ein Privatflugzeug und ein Dutzend schöner Häuser.«
Ein Lehrer hatte dies gehört.»Julia, komm mal her.«
Julia trat vor.
«Du darfst nicht solche Lügen erzählen.«
«Es ist aber keine Lüge«, widersprach Julia.»Mein Vater ist wirklich ein Milliardär! Er ist mit Königen und Staatspräsidenten bekannt!«
Der Lehrer musterte das kleine Mädchen in den schäbigen
Kleidern, das da vor ihm stand, und sagte:»Julia, das ist nicht wahr.«
Julia blieb stur.»Es ist schon wahr!«
Und wieder einmal mußte sie sich bei dem Direktor melden, und danach hatte sie den Namen ihres Vaters in der Schule nie mehr erwähnt.
Julia erfuhr den Grund, warum ihre Mutter von einer Stadt zur anderen zog — wegen der Presse. Da Harry Stanfords Name ständig in der Zeitung stand und die Boulevard- und Regenbogenpresse den alten Skandal immer wieder an die Öffentlichkeit zerrte, fanden die Reporter immer wieder heraus, wer Rosemary Nelson in Wirklichkeit war und wo sie wohnte, und dann sah sie keinen Ausweg mehr, außer wieder einmal die Flucht zu ergreifen.
Julia las jeden Zeitungsartikel über Harry Stanford, der ihr in die Hände fiel, und war jedesmal von neuem versucht, ihn anzurufen. Sie wollte Gewißheit haben — daß Harry während all der Jahre in Wahrheit verzweifelt nach ihrer Mutter gesucht hatte. Ich werde seine Nummer wählen und ihm mitteilen:»Ich bin deine Tochter. Wenn du uns sehen möchtest…«
Und dann würde er zu ihnen kommen und sich wieder in ihre Mutter verlieben und ihre Mutter heiraten, und dann würden sie alle zusammen glücklich sein.
Mit dem Tod der Mutter fanden diese Träumereien ein abruptes Ende. Julia litt unter einem überwältigenden Gefühl des Verlusts. Ich muß meinen Vater verständigen, dachte sie, Mutter war doch ein Teil seines Lebens. Sie verschaffte sich die Telefonnummer des Konzerns in Boston. Dort meldete sich eine weibliche Stimme.
«Guten Morgen, hier Stanford Enterprises.«
Julia zögerte.
«Stanford Enterprises. Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«
Julia legte ganz langsam den Hörer auf. Dieser Anruf wäre Mutter bestimmt nicht recht gewesen.
Nun war sie also ganz allein und hatte keinen einzigen Menschen mehr.
Zur Beerdigung Rosemary Nelsons auf dem Memorial Park Cemetery in Kansas City fand sich nicht ein einziger weiterer Trauernder ein. Das ist nicht fair, Mama, dachte Julia, als sie allein am Grab stand. Du hast einen Fehler begangen und hast dafür dein ganzes Leben lang büßen müssen. Wenn ich dir doch nur einen Teil deines Leids hätte abnehmen können. Ich habe dich sehr lieb, Mama. Und ich werde dich immer liebhaben. Alles, was ihr als Erinnerung an ihre Mutter geblieben war, war eine Sammlung von Fotos und Zeitungsausschnitten.