Die Stute war verschwitzt, daher nahm Jon die Zügel und führte sie ein Stück. Die Straße war kaum breit genug, daß zwei Reiter einander passieren konnten, die Oberfläche von kleinen Bächen durchzogen und von Steinen übersät. Die wilde Jagd war wirklich dumm gewesen, eine Einladung zum Genickbruch. Jon fragte sich, was in ihn gefahren war. Hatte er es mit dem Sterben so eilig?
Der verschreckte Schrei eines Tieres von drüben, zwischen den Bäumen, ließ ihn aufblicken. Seine Stute wieherte nervös. Hatte.sein Wolf Beute gefunden? Er hielt seine Hände an den Mund.»Ghost!«rief er.»Ghost, zu mir. «Als Antwort folgte nur das Rauschen von Flügeln hinter ihm, als sich eine Eule in die Lüfte schwang.
Stirnrunzelnd setzte Jon seinen Weg fort. Er führte die Stute eine halbe Stunde, bis sie trocken war. Ghost tauchte nicht wieder auf. Jon wollte gern aufsteigen und weiterreiten, doch sorgte er sich um seinen Wolf.»Ghost«, rief er noch einmal.»Wo bist du? Zu mir! Ghost!«In diesen Wäldern konnte einem Schattenwolf nichts zustoßen, nicht mal einem halb ausgewachsenen Schattenwolf, es sei denn… nein, Ghost war zu schlau, einen Bären anzugreifen, und falls irgendwo ein Wolfsrudel in der Nähe wäre, hätte Jon das Heulen sicher längst gehört.
Er sollte essen, beschloß er. Das würde seinen Magen beruhigen und Ghost Gelegenheit geben, aufzuholen. Noch drohte keine Gefahr. Noch schlief Castle Black. In seiner Satteltasche fand er Brot, ein Stück Käse und einen kleinen, vertrockneten Apfel. Er hatte auch Pökelfleisch mitgebracht und ein Stück Schinkenspeck aus der Küche, doch wollte er das für den nächsten Morgen aufbewahren. Wenn es aufgegessen wäre, würde er jagen müssen, und dann käme er viel langsamer voran.
Jon saß unter den Bäumen und aß sein Brot mit Käse, während seine Stute neben der Kingsroad graste. Den Apfel hob er sich bis zuletzt auf. Er war etwas weich geworden, aber ansonsten noch sauer und saftig. Jon war beim Gehäuse angekommen, als er etwas hörte: Pferde, und zwar von Norden her. Eilig sprang er auf und ging zu seiner Stute. Konnte er ihnen entkommen? Nein, sie waren zu nah, sicher würden sie ihn hören, und wenn sie von Castle Black kamen…
Er führte die Stute von der Straße, hinter einen dichten Hain graugrüner Wachbäume.»Still jetzt«, sagte er mit leiser Stimme und hockte sich nieder, um durch die Äste zu spähen. Wenn die Götter ihm wohlgesonnen waren, würden die Reiter weiterziehen. Wahrscheinlich waren es nur Leute aus Mole's Town, Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern, obwohl… was machten sie hier mitten in der Nacht…
Er lauschte, wie der Hufschlag stetig lauter wurde, da sie rasch die Kingsroad hinunter trabten. Es schien, als wären es mindestens fünf oder sechs. Ihre Stimmen wehten durch die Bäume heran.
«… sicher, daß er hier entlanggekommen ist?«
«Wir können nicht sicher sein.«
«Schließlich könnte er auch östlich geritten sein. Oder er hat die Straße verlassen, um durch den Wald zu reiten. Das würde ich tun.«
«Im Dunkeln? Dumm. Wenn du nicht vom Pferd fällst und dir das Genick brichst, verirrst du dich, und wenn die Sonne aufgeht, wärst du wieder an der Mauer.«
«War ich nicht. «Grenn klang eingeschnappt.»Ich würde nach Süden reiten. Süden sieht man an den Sternen.«
«Was ist, wenn Wolken am Himmel sind?«fragte Pyp.
«Dann würde ich nicht reiten.«
Eine andere Stimme unterbrach ihn.»Weißt du, wo ich wäre? Ich wäre in Mole's Town und würde nach vergrabenen Schätzen suchen. «Toads schrilles Lachen gellte durch den
Wald. Jons Stute schnaubte.
«Seid still«, sagte Halder.»Ich glaube, ich hab was gehört.«
«Wo? Ich hab nichts gehört. «Die Pferde hielten an.
«Du kannst dich doch nicht mal selbst furzen hören.«
«Kann ich wohl«, hielt Grenn dagegen.
«Still!«
Sie alle schwiegen, lauschten. Jon merkte, daß er die Luft anhielt. Sam, dachte er. Er war nicht zum Alten Bären gegangen, aber auch nicht ins Bett, er hatte die anderen Jungen geweckt. Verdammt sollten sie sein! Wenn der Morgen graute und sie noch nicht in ihren Betten waren, würde man auch sie als Fahnenflüchtige suchen. Was glaubten sie denn, was sie da taten?
Die Stille schien kein Ende nehmen zu wollen. Von dort, wo Jon kauerte, konnte er die Beine ihrer Pferde durch die Zweige sehen. Schließlich meldete sich Pyp zu Wort.»Was hast du gehört?«
«Ich weiß nicht«, räumte Halder ein.»Ein Geräusch, ich dachte, es wäre vielleicht ein Pferd gewesen, aber…«
«Da ist nichts.«
Aus den Augenwinkeln sah Jon einen hellen Schatten, der sich durch die Bäume schob. Blätter raschelten, und Ghost sprang aus dem Dunkel hervor, so plötzlich, daß Jons Stute erschrak und wieherte.»Da!«rief Halder.»Ich hab es auch gehört!«
«Verräter«, sagte Jon zu seinem Schattenwolf und schwang sich in den Sattel. Er riß den Kopf der Stute herum, um sie durch die Bäume zu lenken, doch waren sie bei ihm, bevor er auch nur zehn Schritte machen konnte.»Jon!«rief Pyp ihm nach.
«Bleib stehen«, sagte Grenn.»Du kannst uns nicht allen entkommen.«
Jon fuhr herum, um sich ihnen zu stellen, zog das Schwert.»Geht weg. Ich will Euch nichts tun, aber ich tu es, wenn ich muß.«»Einer gegen sieben?«Halder gab ein Signal. Die Jungen verteilten sich, kreisten ihn ein.
«Was wollt ihr von mir?«rief Jon.
«Wir wollen dich wieder dahin bringen, wo du hingehörst«, sagte Pyp.
«Ich gehöre zu meinem Bruder.«
«Wir sind jetzt deine Brüder«, sagte Grenn.»Sie hacken dir den Kopf ab, wenn sie dich erwischen«, warf Toad mit nervösem Lachen ein.»Das ist so dumm, das ist etwas, das Aurochs tun würde.«
«Würde ich nicht«, sagte Grenn.»Ich bin kein Eidbrecher. Ich habe die Worte gesprochen, und ich habe sie auch so gemeint.«»Das habe ich auch«, erklärte Jon.»Versteht ihr denn nicht? Die haben meinen Vater ermordet. Es ist Krieg, mein Bruder Robb kämpft in den Flußlanden… «
«Das wissen wir«, sagte Pyp ernst.»Sam hat uns alles erzählt.«
«Das mit deinem Vater tut uns leid«, sagte Grenn,»aber es ändert nichts. Hast du den Eid erst abgelegt, kannst du nicht weg, egal, wohin.«
«Ich muß«, rief Jon inbrünstig.
«Du hast die Worte gesagt«, erinnerte ihn Pyp.»Meine Wacht beginnt, du hast es gesagt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod.«
«Ich will auf meinem Posten leben und sterben«, fügte Grenn nickend hinzu.
«Du mußt mir die Worte nicht sagen, ich kenne sie so gut wie du. «Er wurde böse. Wieso konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Sie machten es ihm nur schwerer.
«Ich bin das Schwert in der Dunkelheit«, stimmte Halder an.
«Der Wächter auf der Mauer«, krähte Toad. Jon fluchte ihnen allen ins Gesicht. Sie beachteten ihn nicht. Pyp brachte sein Pferd näher heran, zitierte:»Ich bin das Feuer, das gegen die Kälte brennt, das Licht, das den Morgen bringt, das Horn, das die Schläfer weckt, der Schild, der die Reiche der Menschen schützt.«
«Bleib zurück«, warnte Jon ihn und schwang drohend sein Schwert.»Ich meine es ernst, Pyp. «Sie trugen nicht einmal ihre Rüstungen, er konnte sie in Stücke hacken, wenn er mußte.
Matthar war hinter ihn getreten. Er stimmte in den Chor mit ein.»Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache.«
Jon trat seine Stute, drehte sie herum. Die Jungen waren jetzt überall um ihn, kamen von allen Seiten näher.