In der Septe fing sich das Morgenlicht im großen Kristall, da es durch das südliche Fenster fiel, und breitete sich zu einem Regenbogen auf dem Altar aus. Pyps Unterkiefer sank herab, als er Sam entdeckte, und Toad stieß Grenn in die Rippen, doch keiner traute sich, ein Wort zu sagen. Septon Celledar schwang ein Weihrauchfäßchen und erfüllte die Luft mit duftendem Weihrauch, der Jon an Lady Starks kleine Septe in Winterfell erinnerte. Heute schien der Septon ausnahmsweise nüchtern zu sein.
Die hohen Offiziere trafen gemeinsam ein. Maester Aemon stützte sich auf Clydas, Ser Allison mit kaltem Blick und grimmig, Lord Commander Mormont prächtig in schwarzem, wollenem Wams, gehalten von versilberten Bärenklauen. Hinter ihm kamen die älteren Mitglieder der drei Orden: der rotgesichtige Lord Haushofmeister Bowen Marsh, der Erste Baumeister Othell Yarwyck und Ser Jaremy Rykker, der die Grenzer während der Abwesenheit Benjen Starks kommandierte.
Mormont stand vor dem Altar, der Regenbogen leuchtete auf seinem breiten, kahlen Schädel.»Ihr seid als Geächtete zu uns gekommen«, begann er,»Wilderer, Vergewaltiger, Schuldner, Mörder und Diebe. Ihr seid als Kinder zu uns gekommen. Ihr seid allein zu uns gekommen, in Ketten, ohne Freunde, ohne Ehre. Ihr seid reich zu uns gekommen, und ihr seid arm zu uns gekommen. Einige von euch tragen die Namen stolzer Häuser. Andere tragen nur die Namen von Bastarden oder überhaupt keine Namen. Das alles macht keinen Unterschied. Das alles ist nun vorüber. Auf der Mauer sind wir alle ein Haus.
Wenn der Abend kommt, wenn die Sonne untergeht und der Einbruch der Dunkelheit bevorsteht, werdet ihr euren Eid ablegen. Von dem Augenblick an werdet ihr Waffenbrüder der Nachtwache sein. Von euren Untaten seid ihr dann reingewaschen, eure Schulden sind getilgt. So müßt auch ihr eure früheren Verpflichtungen ablegen, euren Groll fallenlassen, altes Unrecht wie auch alte Liebe vergessen. Hier beginnt ihr von neuem.
Ein Mann der Nachtwache lebt sein Leben für das Reich. Nicht für einen König, nicht für einen Lord, nicht für die Ehre dieses oder jenes Hauses, weder für Gold noch für Ehre oder die Liebe einer Frau, sondern für das Reich und alle Menschen darin. Ein Mann der Nachtwache nimmt sich kein Weib und zeugt keine Söhne. Unser Weib ist die Pflicht. Unsere Geliebte ist die Ehre. Und ihr seid die einzigen Söhne, die wir jemals haben werden.
Ihr habt die Worte des Eides gelernt. Denkt sorgsam nach, bevor ihr sie sprecht, denn habt ihr das Schwarz erst angelegt, gibt es kein Zurück. Die Strafe für Fahnenflucht ist der Tod. «Der Alte Bär legte einen Moment Pause ein, bis er sagte:»Sind unter euch welche, die uns verlassen möchten? Wenn ja, geht jetzt, und niemand wird schlecht von euch denken.«
Keiner rührte sich.
«Gut dann also«, sagte Mormont.»Ihr dürft euren Eid bei Einbruch der Dunkelheit hier ablegen, vor Septon Celladar und dem ersten eurer Orden. Huldigt einer von euch den alten Göttern?«
Jon stand auf.»Ich, Mylord.«
«Ich denke, du wirst den Eid vor einem Herzbaum ablegen wollen, wie auch dein Onkel es getan hat«, sagte Mormont.
«Ja, Mylord«, antwortete Jon. Mit den Göttern der Septe hatte er nichts zu tun. In den Adern der Starks floß das Blut der Ersten Menschen.
Er hörte Grenn hinter sich flüstern.»Hier gibt es keinen Götterhain. Oder? Ich hab hier nie einen Götterhain gesehen.«
«Du würdest eine Herde Auerochsen auch erst sehen, wenn sie dich in den Schnee getrampelt hat«, flüsterte Pyp zurück.
«Würde ich nicht«, beharrte Grenn.»Ich würde sie schon von weitem sehen.«
Mormont selbst bestätigte Grenns Zweifel.»Castle Black braucht keinen Götterhain. Jenseits der Mauer steht der Verwunschene Wald, wie er schon zu Urzeiten stand, lange bevor die Andalen die Sieben über die Meerenge gebracht haben. Du wirst einen Hain mit Wehrholzbäumen eine halbe Wegstunde von hier finden, und vielleicht auch deine Götter.«
«Mylord. «Die Stimme ließ Jon sich überrascht umsehen. Samwell Tarly war aufgestanden. Der dicke Junge wischte die verschwitzten Handflächen an seinem Rock ab.»Dürfte ich… dürfte ich mitgehen? Meine Worte bei diesem Herzbaum sprechen?«
«Huldigt auch das Haus Tarly den alten Göttern?«fragte Mormont.
«Nein, Mylord«, erwiderte Sam mit dünner, nervöser Stimme. Die hohen Offiziere machten ihm angst, das wußte Jon, vor allem der Alte Bär.»Ich wurde im Licht der Sieben in einer Septe auf Hörn Hill benannt, wie auch mein Vater und sein Vater und alle Tarlys seit tausend Jahren.«
«Warum willst du den Göttern deines Vaters und deines Hauses abschwören?«fragte Ser Jaremy Rykker.
«Jetzt ist die Nachtwache mein Haus«, sagte Sam.»Die Sieben haben meine Gebete nie erhört. Vielleicht tun es die alten Götter.«
«Wie du willst, Junge«, sagte Mormont. Sam setzte sich wieder wie auch Jon.»Wir haben jeden von euch einem Orden zugeteilt, wie es euren Bedürfnissen und euren Stärken und Talenten entspricht. «Bowen Marsh trat vor und reichte ihm ein Blatt Papier. Der Lord Commander entrollte es und fing an zu lesen.»Halder zu den Baumeistern«, begann er. Steif nickte Halder seine Zustimmung.»Grenn zu den Grenzern. Albett zu den Baumeistern. Pypar zu den Grenzern. «Pyp sah zu Jon herüber und wackelte mit den Ohren.»Samwell zu den Kämmerern. «Sam sackte vor Erleichterung in sich zusammen, wischte sich die Stirn mit einem Fetzen Seide.»Matthar zu den Grenzern. Dareon zu den Kämmerern. Todder zu den Grenzern. Jon zu den Kämmerern.«
Zu den Kämmerern? Einen Augenblick lang traute Jon seinen Ohren nicht. Mormont mußte sich verlesen haben. Er wollte aufstehen, den Mund aufmachen, ihnen sagen, daß ihnen da ein Fehler unterlaufen war… und dann sah er, wie Ser Alliser ihn betrachtete, die Augen schimmernd wie zwei Splitter von Obsidian, und er verstand.
Der Alte Bär rollte das Papier zusammen.»Eure Ersten werden euch in eure Pflichten einweisen. Mögen die Götter euch beschützen, Brüder. «Der Lord Commander widmete ihnen eine halbe Verbeugung und zog von dannen. Ser Alliser folgte ihm, ein schmales Lächeln auf den Lippen. Nie hatte Jon den Waffenmeister so glücklich gesehen.
«Grenzer zu mir«, rief Ser Jaremy Rykker, als sie gegangen waren. Pyp starrte Jon an, während er langsam aufstand. Seine Ohren waren rot. Grenn, der breit grinste, schien nicht zu merken, daß etwas im argen lag. Matt und Toad gesellten sich zu ihnen, und sie folgten Ser Jaremy aus der Septe.
«Baumeister«, rief Othell Yarwick mit dem Laternenkinn. Halder und Albett folgten ihm hinaus.
Ungläubig sah Jon sich um, und ihm war elend zumute. Maester Aemons blinde Augen waren zum Licht erhoben, das er nicht sehen konnte. Der Septon ordnete Kristalle auf dem Altar. Nur Sam und Dareon blieben auf den Bänken… ein dicker Junge, ein Sänger… und er.
Lord Haushofmeister Bowen Marsh rieb seine feisten Hände aneinander.»Samwell, du wirst Maester Aemon im Vogelhorst und in der Bibliothek zur Hand gehen. Chett geht zum Zwinger und hilft bei den Hunden. Du wirst seine Zelle übernehmen, damit du Tag und Nacht in der Nähe des Maesters bist. Ich erwarte, daß du gut für ihn sorgst. Er ist sehr alt und für uns von sehr großem Wert.
Dareon, man hat mir zugetragen, du hättest schon bei so manchem hohen Herrn bei Tisch gesungen und deren Speis und Trank geteilt. Wir schicken dich nach Eastwatch. Vielleicht kann dein erfahrener Geschmack Cotter Pyke von Nutzen sein, wenn Galeeren kommen, um Handel zu treiben. Wir zahlen zuviel für Pökelfleisch und Fisch, und die Qualität des Olivenöls, das wir bekommen, ist einfach miserabel. Melde dich bei Borcas, er wird dir Aufgaben zuweisen, wenn keine Schiffe vor Anker liegen.«
Marsh wandte sein Lächeln Jon zu.»Lord Commander Mormont hat dich zu seinem persönlichen Kämmerer erwählt, Jon. Du wirst in einer Zelle unter seinen Gemächern schlafen,