Blumen gemustert. Arya war sicher, daß er tot war, doch indem sie näher herankroch, schlug er die Augen auf. «Arya im Wege«, flüsterte er.»Du mußt… deinen… deinen Vater warnen…«Schaumig roter Speichel quoll aus seinem Mund hervor. Wieder schloß der Stallmeister die Augen und sagte kein Wort mehr.
Drinnen lagen weitere Leichen. Ein Stallbursche, mit dem sie gespielt hatte, und drei aus der Leibgarde ihres Vaters. Ein Wagen voller Kisten und Truhen stand verlassen nahe der Stalltür. Die toten Männer schienen ihn gerade für die Reise zu den Docks beladen zu haben, als sie angegriffen wurden. Arya schlich sich heran. Bei einer der Leichen handelte es sich um Desmond, der ihr sein Langschwert gezeigt und versprochen hatte, ihren Vater zu beschützen. Er lag auf dem Rücken, starrte blindlings an die Decke, während Fliegen auf seinen Augen herumkrabbelten. Ganz in der Nähe lag ein toter Mann mit rotem Umhang und einem Helm mit dem Löwenbusch der Lannisters. Aber nur einer, Jeder Nordmann ist mit dem Schwert zehn dieser Südländer wert, hatte Desmond ihr erklärt.»Du Lügner!«fluchte sie und trat in plötzlicher Wut nach seiner Leiche.
Die Tiere waren unruhig in den Ställen, wieherten und schnaubten wegen des Blutgeruchs. Arya konnte nur daran denken, ein Pferd zu satteln und zu fliehen, fort von der Burg und der Stadt. Sie mußte nur auf der Kingsroad bleiben, und diese würde sie heim nach Winterfell führen. Sie nahm Zaumzeug und Geschirr von der Wand.
Während sie hinter dem Wagen entlanglief, fiel ihr eine umgekippte Truhe auf. Sie mußte beim Kampf heruntergefallen sein, oder man hatte sie beim Beladen fallen lassen. Das Holz war gesplittert, der Deckel aufgesprungen, und der Inhalt der Kiste lag am Boden verteilt. Arya bemerkte Seide und Satin und Samt, den sie niemals trug, doch mochte sie auf der Kingsroad vielleicht warme Kleider brauchen… und außerdem…Arya kniete im Dreck zwischen den verstreuten Kleidern. Sie fand einen schweren, wollenen Umhang, einen Samtrock, ein Seidenhemd und einiges an Unterwäsche, ein Kleid, das ihre Mutter ihr bestickt hatte, ein silbernes Kinderarmband, das sie vielleicht verkaufen konnte. Sie stieß den zerbrochenen Deckel beiseite und suchte in der Truhe nach Needle. Das Schwert hatte sie weit unten versteckt, unter allem anderen, aber ihre Sachen waren durcheinandergeraten, als die Truhe umgekippt war. Einen Moment lang fürchtete Arya, jemand könne das Schwert gefunden und gestohlen haben. Dann spürten ihre Finger das harte Metall unter einem Satinkleid.
«Da ist sie«, zischte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken fuhr Arya herum. Ein Stalljunge stand hinter ihr, ein Grinsen im Gesicht, und sein schmutziges, weißes Unterhemd lugte unter einem verdreckten Wams hervor. Seine Stiefel waren voller Dung, und er hielt eine Mistgabel in der Hand.»Wer bist du?«fragte sie.
«Sie kennt mich nicht«, sagte er,»aber ich kenn sie, oh ja! Das Wolfsmädchen.«
«Hilf mir, ein Pferd zu satteln«, flehte Arya, griff hinter sich in die Truhe, suchte nach Needle.»Mein Vater ist die Rechte Hand des Königs, er wird dich belohnen.«
«Vater ist tot«, sagte der Junge. Er schlurfte ihr entgegen.»Die Königin wird mich belohnen. Komm her, Mädchen.«
«Bleib weg!«Ihre Finger schlossen sich um den Griff des Schwertes.
«Ich sage komm. «Er packte sie beim Arm, und zwar fest.
Alles, was Syrio Forel sie je gelehrt hatte, war mit einem Herzschlag vergessen. In diesem Augenblick plötzlichen Entsetzens konnte sich Arya nur noch an eine Lektion erinnern, die Jon Snow ihr erteilt hatte, ihre allererste.
Sie stach mit dem spitzen Ende zu, riß die Klinge mit wilder,
hysterischer Kraft nach oben.
Needle ging durch sein Lederwams, durch das weiße Fleisch seines Bauches und trat zwischen den Schulterblättern wieder hervor. Der Junge ließ die Mistgabel fallen und gab ein leises Ächzen von sich, etwas zwischen Stöhnen und Seufzen. Seine Hände schlössen sich um die Klinge.»Oh, ihr Götter«, stöhnte er, während sein Unterhemd sich rötete.»Zieh es raus.«
Als sie es herauszog, starb er.
Die Pferde schrien. Arya stand über die Leiche gebeugt, still und ängstlich im Angesicht des Todes. Blut war aus dem Mund des Jungen gequollen, als er zusammenbrach, und mehr noch sickerte aus dem Schlitz in seinem Bauch, sammelte sich unter seiner Leiche. Seine Handflächen waren zerschnitten, wo er nach der Klinge gegriffen hatte. Langsam wich sie zurück, Needle rot in ihrer Hand. Sie mußte weg, weit weg von hier, irgendwohin, wo sie vor den anklagenden Augen des Stalljungen sicher war.
Wieder hob sie Zaumzeug und Geschirr auf und rannte zu ihrer Stute, aber indem sie den Sattel auf den Pferderücken hob, wurde Arya plötzlich erschreckend klar, daß die Burgtore geschlossen waren. Selbst die Seitentore würden wahrscheinlich bewacht. Vielleicht würden die Wachen sie nicht erkennen. Falls die Männer sie für einen Jungen hielten, würde man sie vielleicht… nein, sie würden Befehl haben, niemanden aus der Stadt zu lassen, ob man sie nun erkannte oder nicht.
Allerdings gab es noch einen anderen Weg aus der Burg…
Der Sattel glitt Arya aus den Händen, fiel mit dumpfem Schlag in den Dreck und wirbelte Staub auf. Würde sie den Raum mit den Ungeheuern wiederfinden? Sie war nicht sicher, doch sie wußte, daß sie es versuchen mußte.
Sie fand die Kleider, die sie eingesammelt hatte, und warf sich den Umhang über, versteckte Needle in dessen Falten.
Den Rest ihrer Sachen band sie zu einer Rolle zusammen. Mit dem Bündel unterm Arm kroch sie zum anderen Ende des Stalls. Sie entriegelte die Hintertür und spähte vorsichtig hinaus. In der Ferne hörte sie Schwerter klirren und das bebende Heulen eines Mannes, der vor Schmerzen schrie, über den Burghof hinweg. Sie würde die Wendeltreppe hinunter müssen, an der kleinen Kirche und dem Schweinestall vorbei, so war sie beim letzten Mal gelaufen, auf der Jagd nach dem Kater… nur würde sie dieser Weg direkt an den Kasernen der Goldröcke vorüberführen. Das war nicht möglich. Arya überlegte. Wenn sie zur anderen Seite der Burg hinüberlief, konnte sie an der Flußmauer entlang und durch den kleinen Götterhain schleichen… nur mußte sie zuerst den Burghof überqueren, der von den Wachen auf den Mauern offen einzusehen war.
Nie zuvor hatte sie so viele Männer auf den Mauern gesehen. Goldröcke zumeist, mit Spießen bewaffnet. Einige kannte sie vom Sehen. Was würden sie tun, wenn sie Arya auf dem Hof entdeckten? Sie würde von dort oben so klein aussehen… würde man sie überhaupt erkennen? Würde es die Männer interessieren?
Sie mußte jetzt los, sagte sie sich, doch als der Augenblick gekommen war, lahmte sie die Angst.
Ruhig wie stilles Wasser, flüsterte eine leise Stimme in ihr Ohr. Arya erschrak so sehr, daß sie fast ihr Bündel fallen gelassen hätte. Ruckartig sah sie sich um; niemand war im Stall, nur sie, die Pferde und die Toten.
Still wie ein Schatten, hörte sie. War es ihre eigene Stimme oder Syrios? Sie konnte es nicht sagen, dennoch beruhigte sie ihre Angst ein wenig.
Sie trat aus dem Stall heraus.
Es war das Unheimlichste, was sie je im Leben getan hatte. Sie wollte rennen und sich verstecken und zwang sich trotzdem, über den Hof zu gehen, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, als hätte sie alle Zeit der Welt und keinen Grund, sich vor irgend jemandem zu fürchten. Sie glaubte, ihre Blicke zu spüren wie Käfer, die unter ihren Kleidern über ihre Haut krochen. Arya sah nicht auf. Wenn sie bemerkte, wie die Männer sie beobachteten, würde sie den Mut verlieren, das wußte sie, und sie würde das Bündel fallen lassen und rennen und wie ein kleines Kind weinen, und dann wäre sie verloren. Sie hielt ihren Blick auf den Boden geheftet. Als sie in den Schatten der königlichen Septe auf der anderen Seite des Hofes trat, fror Arya vor Schweiß. Niemand hatte sie angerufen.
Die Septe stand offen und war verlassen. Drinnen brannte ein halbes Hundert Kerzen in duftender Stille. Arya dachte sich, die Götter würden zwei davon wohl kaum vermissen. Diese schob sie in den Ärmel und stieg durch ein Hinterfenster hinaus. Zu der Gasse zu schleichen, in der sie den einohrigen Kater gestellt hatte, war einfach, danach verlief sie sich. Sie kroch in Fenster hinein und wieder daraus hervor, kletterte über Mauern und tastete sich durch dunkle Keller, still wie ein Schatten. Einmal hörte sie eine Frau weinen. Fast eine Stunde brauchte sie, das niedrige, schmale Fenster zu finden, das hinunter in den Kerker führte, wo die Ungeheuer warteten.