Ser Jaremy richtete sich auf, seine Miene starr vor Zorn.»Es wurde kein Horn geblasen, Mylord, sonst hätten meine Grenzer es gehört. Ich habe nicht genügend Männer, um so viele Patrouillen auszusenden, wie ich gern würde… und da Benjen vermißt wurde, haben wir uns näher an der Mauer gehalten, als es vorher von uns erwartet wurde, auf Euren eigenen Befehl hin.«
Der Alte Bär grunzte.»Ja. Gut. «Er machte eine ungeduldige Geste.»Sagt mir, wie sie gestorben sind.«
Als er neben dem toten Mann hockte, in dem er Jafer Flowers erkannt hatte, nahm Ser Jaremy dessen Kopf beim
Haarschopf. Das Haar rieselte ihm durch die Finger, brüchig wie Stroh. Der Ritter fluchte und stieß mit seinem Handballen nach dem Gesicht. Eine klaffende Wunde seitlich am Hals der Leiche öffnete sich wie ein Mund, verkrustet von trockenem Blut. Nur ein paar helle Sehnen hielten den Kopf noch am Hals.»Es war eine Axt.«
«Aye«, murmelte Dyvven, der alte Waldmann.»Wahrscheinlich die Axt, die Othor bei sich trug, M'lord.«
Jon spürte, wie sich das Frühstück in seinem Magen umdrehte, doch preßte er die Lippen aufeinander und zwang sich, einen Blick auf die zweite Leiche zu werfen. Othor war ein großer, häßlicher Mann gewesen, und jetzt war er eine große, häßliche Leiche. Eine Axt war nicht zu entdecken. Jon erinnerte sich an Othor. Er war es gewesen, der das zotige Lied gesungen hatte, als die Grenzer ausritten. Seine Sangestage waren nun vorüber. Seine Haut schimmerte weiß wie Milch, überall, bis auf seine Hände. Seine Hände waren schwarz wie Jafers. Blüten von aufgeplatztem, trockenem Blut verzierten die tödlichen Wunden, die ihn wie Hautausschlag überzogen. Doch seine Augen standen offen. Sie starrten zum Himmel hinauf, blau wie Saphire.
Ser Jaremy erhob sich.»Auch die Wildlinge haben Äxte. «Mormont fuhr ihn an:»Ihr glaubt also, es wäre Mance Ryders Werk? So nah an der Mauer?«»Wessen sonst, Mylord?«
Jon hätte es ihnen sagen können. Er wußte es, sie alle wußten es, nur wollte keiner der Männer die Worte aussprechen. Die anderen sind nur eine Geschichte, ein Märchen, das Kindern Angst einjagen solle. Falls sie je gelebt haben, sind sie seit achttausend Jahren tot. Beim bloßen Gedanken daran kam er sich albern vor. Nun war er ein erwachsener Mann, ein schwarzer Bruder der Nachtwache, nicht mehr der Junge, der einst mit Bran und Robb und Arya zu Old Nans Füßen gesessen hatte.
Lord Commander Mormont stieß ein Schnauben aus.»Wenn Ben Stark von Wildlingen angegriffen worden wäre, einen halben Tagesritt von Castle Black entfernt, wäre er umgekehrt, um Verstärkung zu holen, hätte die Mörder durch alle sieben Höllen gejagt und mir ihre Köpfe gebracht.«
«Es sei denn, er wäre selbst ermordet worden«, beharrte Ser Jaremy.
Die Worte schmerzten, selbst jetzt noch. Es war so lange her und mutete wie eine Narretei an, sich an die Hoffnung zu klammern, daß Ben Stark noch lebte, doch wenn Jon Stark irgend etwas war, dann stur.
«Es ist nun fast ein halbes Jahr her, seit Ben Stark uns verlassen hat, Mylord«, fuhr Ser Jaremy fort.»Der Wald ist riesig. Die Wildlinge könnten überall über ihn hergefallen sein. Ich vermute, daß diese beiden die letzten Überlebenden seines Trupps waren, auf dem Weg zurück zu uns… aber der Feind hat sie erwischt, bevor sie hinter die sichere Mauer gelangen konnten. Die Leichen sind noch frisch, diese Männer können nicht länger als einen Tag tot sein…«
«Nein«, quiekte Samwell Tarly.
Jon erschrak. Sams nervöse, hohe Stimme war das letzte, was zu hören er erwartet hatte. Der dicke Junge fürchtete sich vor den Offizieren, und Ser Jaremy war nicht eben für seine Geduld bekannt.
«Ich habe um deine Meinung nicht gebeten, Junge«, sagte Rykker kalt.
«Laßt ihn sprechen, Ser«, platzte Jon heraus.
Mormonts Blick zuckte von Sam zu Jon und wieder zurück.»Wenn der Knabe etwas zu sagen hat, will ich ihn anhören. Komm näher, Junge. Wir können dich hinter den Pferden nicht sehen.«
Sam schob sich an Jon und den Kleppern vorbei, wobei er heftig schwitzte.»Mylord, es… es kann kein Tag sein, oder… seht… das Blut…«
«Ja?«knurrte Mormont ungeduldig.»Blut, was ist damit?«
«Er besudelt seine Unterwäsche beim Anblick«, rief Chett aus, und die Grenzer lachten.
Sam wischte den Schweiß von seiner Stirn.»Ihr… Ihr könnt sehen, wo Ghost… Jons Schattenwolf… Ihr könnt sehen, wo er die Hand des Mannes abgerissen hat, und doch… der Stumpf hat nicht geblutet, seht…«Er winkte mit einer Hand.»Mein Vater… L-lord Randyll, er hat mich manchmal gezwungen, zuzusehen, wenn er Tiere abzog, wenn… nachdem…«Sam schüttelte den Kopf von einer Seite zur anderen, und seine Kinne bebten. Nachdem er die Leichen nun betrachtet hatte, schien er sich nicht abwenden zu können.»Ein frischer Abschuß… das Blut würde noch fließen, Mylords. Später… später wäre es geronnen wie… wie Gelee, dick und… und…«Es sah aus, als würde ihm gleich übel werden.»Dieser Mann… seht sein Handgelenk an, es ist ganz… verkrustet… trocken… wie… «
Augenblicklich fiel Jon auf, was Sam meinte. Er konnte die zerfetzten Venen im Handgelenk des Mannes sehen, eiserne Würmer im fahlen Fleisch. Sein Blut war schwarzer Staub. Jaremy Rykker war nicht überzeugt.»Wenn sie länger als einen Tag tot wären, würden sie inzwischen faulen, Junge. Sie riechen nicht einmal.«
Dywen, der mürrische, alte Waldmann, der gern damit prahlte, er könne riechen, wenn der Schnee kam, trat näher an die Leichen heran und schnüffelte.»Nun, es sind keine Stiefmütterchen, aber… M'lord sagt wahre Worte. Es gibt keinen Leichengestank.«
«Sie… sie modern nicht. «Sam deutete mit dem Finger, und dieser zitterte nur ein wenig.»Seht, da sind… da sind keine Maden oder… oder… Würmer oder irgendwas… die liegen hier im Wald, aber sie… sie sind nicht von Tieren angenagt oder angefressen worden… nur Ghost… ansonsten sind sie… sind sie… «
«Unangetastet«, sagte Jon leise.»Und Ghost ist anders. Die Hunde und die Pferde wollen nicht herangehen.«
Die Grenzer tauschten Blicke. Sie konnten sehen, daß es stimmte, jeder einzelne von ihnen. Mormont legte die Stirn in Falten, blickte von den Leichen zu den Hunden.»Chett, holt die Hunde her.«
Chett versuchte es fluchend, riß an den Leinen, gab einem der Tiere einen Tritt mit dem Stiefel. Die meisten Hunde wimmerten nur und stemmten sich dagegen. Er versuchte, einen heranzuzerren. Die Hündin wehrte sich, knurrte und zog, als wollte sie sich ihrem Halsband entwinden. Schließlich sprang sie ihn an. Chett ließ die Leine fallen und taumelte rückwärts. Die Hündin sprang über ihn hinweg und floh zwischen die Bäume.
«Da… da paßt doch eins nicht zum anderen«, sagte Sam Tarly ernst.»Das Blut… da sind Blutflecken auf ihren Kleidern, und… und ihre Haut, trocken und hart, aber… da ist nichts auf dem Boden oder… sonstwo. Mit diesen… diesen… diesen… diesen…«Sam zwang sich zu schlucken, holte tief Luft.»Bei diesen Wunden… diesen schrecklichen Wunden… müßte alles voller Blut sein. Oder?«
Dywen sog Speichel durch seine hölzernen Zähne.»Könnte sein, daß sie nicht hier gestorben sind. Könnte sein, daß jemand sie hergebracht und für uns hat liegenlassen. Eine Warnung vielleicht. «Argwöhnisch sah der alte Waldmann die Leichen an.»Und könnte auch sein, daß ich ein Narr bin, aber ich wüßte nicht, daß Othor irgendwann mal blaue Augen hatte.«
Ser Jaremy zog ein verdutztes Gesicht.»Flowers auch nicht«, platzte er heraus, wandte sich um und starrte den toten Mann an.
Schweigen breitete sich über dem Wald aus. Einen Moment lang hörten sie nur Sams schweren Atem und dieses feuchte Zischen, wenn Dywen Speichel durch die Zähne sog. Jon hockte neben Ghost.
«Verbrennt sie«, flüsterte jemand. Einer von den Grenzern. Jon konnte nicht sagen, wer.»Ja, verbrennt sie«, drängte eine zweite Stimme.