«Glaub ihm kein Wort, ich habe ihn eben gefüttert«, knurrte der Alte Bär. Er saß am Fenster, las einen Brief.»Bring mir einen Becher Wein und schenk dir selbst auch einen ein.«
«Für mich, Mylord?«
Mormont hob die Augen vom Brief, um Jon anzublicken. Mitgefühl lag in seinen Augen, das war nicht zu übersehen.»Du hast mich gehört.«
Jon goß mit übertriebener Vorsicht ein, merkte, daß er es in die Länge zog. Wenn die Becher gefüllt wären, hätte er keine andere Wahl mehr, müßte sich dem stellen, was im Brief geschrieben stand. Allzu bald schon waren sie randvoll.»Setz dich, Junge«, befahl ihm Mormont.»Trink.«
Jon blieb stehen.»Es geht um meinen Vater, nicht?«
Der Alte Bär tippte mit dem Finger auf den Brief.»Um deinen Vater und den König«, donnerte er.»Ich will dich nicht belügen, es sind traurige Nachrichten. Nie hätte ich gedacht, daß ich noch einen neuen König erlebe, nicht in meinem Alter, da Robert halb so alt wie ich und stark wie ein Bulle war. «Er nahm einen Schluck Wein.»Man sagt, der König sei gern zur Jagd gegangen. Die Dinge, die wir lieben, sind stets auch jene, die uns zerstören. Vergiß das nicht. Mein Sohn hat seine junge Frau geliebt. Eitles Weib. Wenn es nicht nach ihr gegangen wäre, hätte er nie daran gedacht, diese Wilderer zu verkaufen.«
Jon konnte dem, was er sagte, kaum noch folgen.»Mylord, ich verstehe nicht. Was ist mit meinem Vater passiert?«
«Ich habe gesagt, du sollst dich setzen«, murrte Mormont.»Setzen«, kreischte der Rabe.»Und trink was, verdammt noch mal. Das ist ein Befehl, Snow.«
Jon setzte sich und nahm einen Schluck Wein.
«Lord Eddard sitzt im Kerker. Man beschuldigt ihn des Hochverrats. Es heißt, er habe mit Roberts Brüdern den Plan geschmiedet, Prinz Joffrey um den Thron zu bringen.«
«Nein«, sagte Jon sofort.»Das kann nicht sein. Mein Vater würde den König niemals verraten!«
«Wie dem auch sei«, sagte Mormont.»Es steht mir nicht an, das zu beurteilen. Und auch dir nicht.«
«Aber es ist eine Lüge«, beharrte Jon. Wie konnten sie glauben, sein Vater sei ein Verräter? Hatten sie alle den Verstand verloren? Lord Eddard Stark würde sich nie entehren… oder?
Er hat einen Bastard gezeugt, flüsterte eine leise Stimme in seinem Inneren. Was war daran ehrenhaft? Und deine Mutter,
was ist mit ihr? Er will nicht einmal ihren Namen nennen.
«Mylord, was soll mit ihm geschehen? Wird man ihn hinrichten?«
«Was das angeht, so kann ich es nicht sagen, Junge. Ich will ihm einen Brief schreiben. In meiner Jugend kannte ich einige Ratsherren des Königs. Den alten Pycelle, Lord Stannis, Ser Barristan… was immer dein Vater getan hat oder nicht getan hat, er ist ein großer Lord. Man muß ihm gestatten, das Schwarz anzulegen und sich uns anzuschließen. Die Götter wissen, daß wir Männer von Lord Eddards Fähigkeiten brauchen.«
Jon wußte, daß andere Männer, die des Hochverrats beschuldigt wurden, in der Vergangenheit ihre Ehre auf der Mauer wiederherstellen durften. Wieso nicht auch Lord Eddard? Sein Vater hier. Das war ein merkwürdiger Gedanke, und bedrückend dazu. Es wäre eine monströse Ungerechtigkeit, ihm Winterfell zu nehmen und ihn zu zwingen, das Schwarz anzulegen, und doch… wenn es um sein Leben ging…
Und würde Joffrey es zulassen? Er erinnerte sich von Winterfell her noch an den Prinzen, wie er Robb und Ser Rodrik auf dem Hof verhöhnt hatte. Jon selbst hatte er kaum je Aufmerksamkeit geschenkt. Bastarde waren nicht einmal seine Verachtung wert.»Mylord, wird der König auf Euch hören?«
Der Alte Bär zuckte mit den Schultern.»Ein Kindskönig… ich denke, er wird auf seine Mutter hören. Eine Schande, daß der Zwerg nicht bei ihnen ist. Er ist der Onkel des Kleinen, und der hat unsere Not gesehen, als er hier war. Es war schlimm, daß deine Hohe Mutter ihn zum Gefangenen gemacht hat… «
«Lady Stark ist nicht meine Mutter«, erinnerte ihn Jon scharf. Tyrion war ihm ein Freund gewesen. Falls Lord Eddard den Tod fand, würde man es ihr ebenso vorwerfen müssen wie der Königin.»Mylord, was ist mit meinen Schwestern? Arya und Sansa, sie waren bei meinem Vater, wißt Ihr…«
«Pycelle erwähnt sie nicht, aber zweifellos wird man sie gut behandeln. Ich will mich in meinem Brief nach ihnen erkundigen. «Mormont schüttelte den Kopf.»Das alles hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt geschehen können. Wenn das Reich je einen starken König brauchte… dunkle Tage und kalte Nächte liegen vor uns, ich spüre es in meinen Knochen…«Er warf Jon einen langen, scharfen Blick zu.»Ich hoffe, du hast keine Dummheit im Sinn, Junge.«
Er ist mein Vater, lag es Jon auf der Zunge, aber er wußte, daß Mormont das nicht hören wollte. Seine Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, noch einen Schluck Wein zu trinken.
«Deine Pflichten sind hier«, erinnerte ihn der Lord Commander.»Dein altes Leben ist zu Ende. Jetzt trägst du das Schwarz. «Sein Vogel brachte ein heiseres Echo hervor» Schwarz. «Mormont beachtete ihn nicht.»Was auch immer dort in King's Landing vor sich gehen mag, ist nicht deine Sache. «Jon gab keine Antwort, und der alte Mann trank seinen Wein aus und sagte:»Du kannst jetzt gehen. Ich habe heute weiter keine Verwendung für dich. Morgen früh kannst du mir helfen, diesen Brief zu schreiben.«
Jon erinnerte sich nicht, aufgestanden zu sein oder das Solar verlassen zu haben. Er kam zu sich, als er die Turmtreppe hinunterging, und dachte: Es geht um meinen Vater und um meine Schwestern, wie kann es denn nicht meine Sache sein?
Draußen sah einer der Wächter ihn an und sagte:»Sei stark, Junge. Die Götter sind grausam.«
Sie wissen es, dachte Jon.»Mein Vater ist kein Verräter«, sagte er heiser. Selbst die Worte blieben ihm im Halse stecken, schienen ihn ersticken zu wollen. Wind kam auf, und im Hof kam es ihm plötzlich kälter als vorhin vor. Der Geistersommer ging zu Ende. Der Rest des Nachmittags verstrich wie in einem Traum. Jon hätte nicht sagen können, wohin er ging, was er tat, mit wem er sprach. Ghost war bei ihm, soviel wußte er. Die stille Gesellschaft des Schattenwolfes tröstete ihn. Die Mädchen haben nicht mal das, so dachte er. Ihre Wölfe hätten sie beschützen können, aber Lady ist tot und Nyemria vermißt, sie sind ganz allein.
Bei Sonnenuntergang hatte Nordwind eingesetzt. Jon konnte hören, wie dieser über die Mauer und über die eisigen Wehranlagen pfiff während er zum Abendessen hinüber zum Gemeinschaftssaal ging. Hobb hatte Wildeintopf gekocht, mit Gerste, Zwiebeln und Karotten angedickt. Er schöpfte eine Extrakelle auf Lord Snows Teller, reichte ihm einen knusprigen Brotknust. Jon wußte, was das bedeutete. Er weiß Bescheid. Er blickte sich in der Halle um, sah Köpfe, die sich eilig abwendeten, die Augen höflich gesenkt. Alle wissen Bescheid.
Seine Freunde versammelten sich um ihn.»Wir haben den Septon gebeten, eine Kerze für deinen Vater anzuzünden«, erklärte Matthar.»Es ist gelogen, wir alle wissen, daß es gelogen ist, sogar Grenn weiß, daß es gelogen ist«, stimmte Pyp mit ein. Grenn nickte, und Sam griff nach Jons Hand.»Du bist jetzt mein Bruder, also ist er auch mein Vater«, sagte der dicke Junge.»Wenn du zu den Wehrholzbäumen möchtest, um zu beten, komme ich mit dir.«
Die Wehrholzbäume standen jenseits der Mauer, doch wußte er dennoch, daß Sams Angebot ernst gemeint war. Sie sind meine Brüder, dachte er. Ebenso wie Robb und Bran und Rickon…
Und dann hörte er das Lachen, scharf und grausam wie eine Peitsche, und die Stimme von Ser Alliser Thorne.»Nicht nur ein Bastard, sondern ein Verräterbastard«, erklärte er den Männern um sich herum.
Augenblicklich war Jon auf den Tisch gesprungen, den Dolch in der Hand. Pyp griff nach ihm, aber er riß sein Bein los, und dann rannte er über den Tisch und trat Ser Alliser die
Schale aus der Hand. Eintopf flog durch die Luft, bespritzte die Brüder. Thorne wich zurück. Männer schrien, Jon Snow hörte sie nicht. Er hieb mit dem Dolch auf Ser Allisers Gesicht ein, stach nach diesen kalten Augen aus Onyx, doch Sam warf sich zwischen die beiden, und bevor Jon um ihn herum war, hing Pyp wie ein Affe an seinem Rücken und Grenn packte seinen Arm, während Toad ihm das Messer aus den Fingern wand.