Fast vierzehn Tage lang hatte ein solches Kommen und
Gehen geherrscht, daß Robb befahl, beide Falltore oben zu lassen und die Zugbrücke dazwischen unten, selbst in der Nacht. Eine lange Reihe gepanzerter Lanzenreiter überquerte den Burggraben zwischen den Mauern, als Bran aus dem Turm kam. Männer von Karstark folgten ihren Lords in die Burg. Sie trugen schwarze, eiserne Halbhelme und ebenfalls schwarze Wollumhänge, die mit der weißen Sonne gemustert waren. Hodor trottete neben ihnen her, lächelte vor sich hin, während seine Stiefel über das Holz der Zugbrücke polterten. Die Reiter warfen ihnen schräge Blicke zu, wenn sie vorüberritten, und einmal hörte Bran, wie jemand lachte. Er nahm es sich nicht zu Herzen.»Die Menschen werden dich anstarren«, hatte Maester Luwin ihn beim ersten Mal gewarnt, als sie den Strohkorb um Hodors Brustkorb banden.»Sie werden gaffen, und sie werden reden, und einige werden dich verspotten. «Laß sie spotten, dachte Bran. In seiner Schlafkammer würde ihn niemand verhöhnen, aber er wollte sein Leben nicht im Bett verbringen.
Als sie unter den Falltoren hindurchkamen, schob Bran zwei Finger in seinen Mund und pfiff. Summer kam über den Hof gelaufen. Plötzlich mühten sich die Lanzenreiter ab, ihre Pferde im Zaum zu halten, die mit den Augen rollten und vor Entsetzen wieherten. Ein Hengst scheute, schrie, während der Reiter fluchte und verzweifelt Halt suchte. Der Geruch des Schattenwolfes versetzte die Pferde in panische Angst, wenn sie nicht daran gewöhnt waren, doch würden sie sich bald beruhigen, wenn Summer wieder fort wäre.»Zum Götterhain«, erinnerte Bran Hodor.
Selbst auf Winterfell drängten sich die Menschen. Auf dem Hof hörte man Schwert und Axt, das Rumpeln von Wagen und das Gebell von Hunden. Die Tür zur Waffenkammer stand offen, und Bran sah Mikken an seinem Ofen, und der Hammer klang, während Schweiß von seiner nackten Brust tropfte. Nie zuvor in all den Jahren hatte Bran so viele Fremde gesehen, nicht einmal, als König Robert seinem Vater einen Besuch
abgestattet hatte.
Er riß sich zusammen, um nicht zurückzuschrecken, als Hodor sich unter einem niedrigen Türrahmen duckte. Sie gingen einen langen, dunklen Korridor entlang, und Summer trottete leichtfüßig neben ihnen. Von Zeit zu Zeit sah der Wolf zu ihm auf, die Augen glühend wie flüssiges Gold. Bran hätte ihn gern berührt, aber er ritt allzu hoch, als daß er ihn mit der Hand hätte erreichen können.
Der Götterhain war eine Insel des Friedens in einem Meer des Chaos, zu dem Winterfell dieser Tage geworden war. Hodor hatte sich einen Weg durch den dichten Hain von Eichen, Eisen- und Wachbäumen gebahnt, hinüber zum stillen Teich neben dem Herzbaum. Er blieb unter den knorrigen Ästen des Wehrbaums stehen, noch immer summend. Bran langte nach oben über seinen Kopf und hob sich aus dem Sitz, zog die tote Last seiner Beine durch die Löcher im Weidenkorb. Einen Moment lang hing er da, baumelte, die dunkelroten Blätter strichen über sein Gesicht, bis Hodor ihn anhob und auf den glatten Stein neben dem Wasser setzte.»Ich möchte eine Weile für mich allein sein«, sagte er.»Du kannst baden. Geh zu den Teichen.«
«Hodor. «Hodor stapfte durch die Bäume und verschwand. Hinter dem Götterhain, unter den Fenstern des Gästehauses, speiste eine heiße Quelle drei kleine Tümpel. Bei Tag und Nacht stieg Dampf vom Wasser auf, und die Mauer, die darüber aufragte, war dick von Moos bewachsen. Hodor haßte kaltes Wasser und wehrte sich wie eine Wildkatze, wenn man ihm mit Seife drohte, doch stieg er selig in den heißesten Tümpel, saß stundenlang darin und gab ein lautes Rülpsen von sich als Antwort auf das Wasser, wann immer eine Blase aus den schlammig grünen Tiefen an die Oberfläche trat.
Summer trank gierig von dem Wasser und ließ sich neben Bran nieder. Der Junge kraulte den Wolf unter dem Kinn, und für einen Augenblick fanden Mensch und Tier Frieden. Bran hatte den Götterhain schon immer gemocht, selbst vorher, doch merkte er, wie er sich in letzter Zeit mehr und mehr dort hingezogen fühlte. Auch der Herzbaum machte ihm nicht mehr solche Angst wie früher. Die tiefroten Augen, die in den fahlen Stamm geschnitzt waren, beobachteten ihn nach wie vor, inzwischen empfand er diesen Blick jedoch eher als tröstlich. Die Götter wachten über ihn, so sagte er sich. Die alten Götter, Götter der Starks und der Ersten Menschen und der Kinder des Waldes, die Götter seines Vaters. Er fühlte sich in ihrer Nähe sicher, und die tiefe Stille der Bäume half ihm beim Denken. Und seit seinem Sturz hatte Bran viel nachgedacht. Gegrübelt und geträumt und mit den Göttern gesprochen.
«Bitte macht, daß Robb nicht fortgeht«, betete er leise. Er fuhr mit der Hand durchs kalte Wasser, sandte kleine Wellen über den Teich.»Bitte laßt ihn bleiben. Oder, wenn er fort muß, bringt ihn sicher wieder heim, zusammen mit Mutter und Vater und den Mädchen. Und gebt… gebt, daß Rickon es versteht.«
Sein kleiner Bruder war wild wie ein Wintersturm, seit er erfahren hatte, daß Robb in den Krieg ziehen würde, weinte und tobte abwechselnd. Er hatte sich geweigert zu essen, hatte fast eine ganze Nacht lang geweint und geschrien, sogar Old Nan geschlagen, als sie versuchte, ihn in den Schlaf zu singen, und am nächsten Tag war er verschwunden. Robb hatte die halbe Burg auf die Suche nach ihm geschickt, und nachdem sie ihn schließlich unten in der Gruft gefunden hatten, schlug Rickon mit einem verrosteten Eisenschwert auf sie ein, das er einem toten König aus der Hand gewunden hatte, und Shaggydog kam wie ein grünäugiger Dämon geifernd aus der Finsternis hervor. Der Wolf war fast so wild wie Rickon. Er hatte Gage in den Arm gebissen und aus Mikkens Schenkel ein Stück Fleisch herausgerissen. Erst Robb und Grey Wind hatten es geschafft, sie zu bändigen. Farley hatte den schwarzen Wolf jetzt im Zwinger angekettet, und Rickon weinte nur noch mehr,
weil er jetzt ohne ihn war.
Maester Luwin riet Robb, auf Winterfell zu bleiben, und auch Bran hatte ihn angefleht, um seiner selbst willen ebenso wie Rickons wegen, sein Bruder allerdings hatte nur stur den Kopf geschüttelt und gesagt:»Ich will nicht fort. Ich muß.«
Es war nur halb gelogen. Irgend jemand mußte gehen, um den Neck zu halten und den Tullys gegen die Lannisters beizustehen. Bran begriff das wohl, aber es mußte nicht Robb sein. Sein Bruder hätte das Kommando Hai Mollen oder Theon Greyjoy überlassen können, oder einem seiner Lords und Bannerträger. Maester Luwin drängte ihn, ebendas zu tun, nur wollte Robb davon nichts hören.»Mein Hoher Vater hätte niemals Männer in den Tod geschickt, sich selbst hingegen wie ein Feigling hinter den Mauern von Winterfell verschanzt«, sagte er, ganz Robb, der Lord. Robb erschien Bran halb wie ein Fremder, verwandelt, ein wahrer Lord, obwohl er seinen sechzehnten Namenstag noch nicht gefeiert hatte. Die Verbündeten seines Vaters spürten dies vermutlich ebenfalls. Mancher versuchte, ihn auf die Probe zu stellen, jeder auf seine Weise. Roose Bolton und Robett Glover forderten beide für sich die Ehre des Kommandos in der Schlacht, der erste brüsk, der zweite mit einem Lächeln und einem Scherz. Die stämmige, grauhaarige Maege Mormont, wie ein Mann mit Kettenhemd gewandet, erklärte Robb barsch, er sei so jung, er könne ihr Enkel sein, und es sei nicht an ihm, ihr Befehle zu erteilen… doch wie der Zufall es wollte, hatte sie eine Enkelin, die sie gern mit ihm vermählen wollte. Lord Cerwyn mit der sanften Stimme hatte gar seine Tochter mitgebracht, ein plumpes, reizloses Mädchen von dreißig Jahren, die zur Linken ihres Vaters saß und den Blick nie von ihrem Teller nahm. Der joviale Lord Hornwood hatte keine Töchter, dafür brachte er Geschenke, am einen Tag ein Pferd, eine Hirschkeule am nächsten, am Tag darauf ein silbern eingefaßtes Jagdhorn, und er bat um keine Gegenleistung… nichts außer einer bestimmten