Die anderen Jungen versammelten sich um die acht, deren Namen aufgerufen worden waren, lachten und fluchten und gratulierten. Halder schlug Toad mit der flachen Seite seines Schwertes auf den Hintern und brüllte:»Toad von der Nachtwache!«Pyp rief, ein schwarzer Bruder brauche ein Pferd, und sprang auf Grenns Schultern. Dabei gingen sie kullernd und knuffend und johlend zu Boden. Daeron rannte in die Waffenkammer und kam mit einem Schlauch von saurem Roten wieder. Während sie den Wein vom einen zum anderen reichten und wie blöde grinsten, bemerkte Jon, daß Samwell Tarly allein unter einem kahlen, toten Baum in der Ecke des
Hofes stand. Jon bot ihm den Schlauch an.»Ein Schluck Wein?«
Sam schüttelte den Kopf.»Nein danke, Jon.«
«Geht es dir gut?«
«Sehr gut, wirklich«, log der dicke Junge.»Ich freue mich so für euch alle. «Sein rundes Gesicht zitterte, als er sich zu einem Lächeln zwang.»Eines Tages wirst du Erster Grenzer, ganz wie dein Onkel es war.«
«Ist«, verbesserte Jon. Er wollte Benjen Starks Tod nicht akzeptieren. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, rief Halder:»Hier, willst du das alles allein trinken?«Pyp riß ihm den Weinschlauch aus der Hand und wich ihm lachend aus. Als Grenn ihn beim Arm packte, drückte Pyp den Schlauch und ein dünner, roter Strahl spritzte Jon ins Gesicht. Halder heulte protestierend über die Vergeudung guten Weines. Jon spuckte. Matthar und Jeren erklommen die Mauer und begannen, sie mit Schneebällen zu bewerfen.
Nachdem er sich losgerissen hatte, Schnee im Haar und Wein auf seinem Wappenrock, war Samwell Tarly verschwunden.
An diesem Abend kochte Drei-Finger-Hobb den Jungen zur Feier des Tages ein besonderes Mahl. Als Jon den Gemeinschaftssaal betrat, führte ihn der Lord Haushofmeister persönlich zur Bank am Feuer. Die älteren Männer klopften ihm im Vorübergehen auf die Schulter. Die acht zukünftigen Brüder feierten mit Lammbraten, in Knoblauch und Krautern gebacken, garniert mit Zweigen von Minze, eingerahmt von gestampften, gelben Rüben, die in Butter schwammen.»Direkt vom Tisch des Lord Commanders«, erklärte ihnen Bowen Marsh. Es gab Salate aus Spinat und Kichererbsen und Steckrüben und danach Schalen mit Blaubeeren und süßer Sahne.
«Glaubt ihr, sie lassen uns zusammen?«fragte Pyp, während
sie sich selig die Mägen vollschlugen.
Toad verzog das Gesicht.»Ich hoffe nicht. Ich hab mir deine Ohren schon lange genug angesehen.«
«Ho«, fuhr Pyp auf.»Hört, wie die Krähe alle Raben schwarz schimpft. Du wirst ganz sicher ein Grenzer, Toad. Sie werden uns so weit weg wie möglich von der Burg haben wollen. Wenn Mance Ryder angreift, klappst du dein Visier hoch und zeigst ihm dein Gesicht, dann rennt er schreiend fort.«
Alle außer Grenn lachten.»Ich hoffe, ich werde Grenzer.«
«Du und alle anderen«, meinte Matthar. Jeder, der Schwarz trug, tat seinen Dienst auf der Mauer, und von jedem wurde erwartet, daß er zu ihrer Verteidigung zum Stahl griff, doch die Grenzer waren das wahre kämpfende Herz der Nachtwache. Sie waren diejenigen, die es wagten, vor die Mauer zu gehen und den verwunschenen Wald und die eisigen Berghöhen westlich vom Shadow Tower zu durchstreifen, wo sie gegen Wildlinge und Riesen und gigantische Eisbären kämpften.
«Nicht alle«, entgegnete Halder.»Ich gehe zu den Baumeistern. Welchen Nutzen hätten die Grenzer, wenn die Mauer einstürzt?«
Man brauchte viele Maurer und Zimmerleute zur Reparatur von Festungen und Türmen, Bergleute zum Tunnelgraben und zum Zertrümmern der Steine für Straßen und Wege, Forstarbeiter zum Entfernen von nachgewachsenem Unterholz, wo der Wald zu nahe an die Mauer kam. Einmal, sagte man, hatten sie mächtige Eisblöcke aus gefrorenen Seen weit im verwunschenen Wald gehauen und diese auf Schlitten gen Süden gefahren, um die Mauer noch höher zu bauen. Das war jedoch Jahrhunderte her. Jetzt konnten sie nur noch von Eastwatch zum Shadow Tower über die Mauer reiten und nach Rissen oder geschmolzenen Stellen suchen und diese reparieren, so gut es ging.
«Der Alte Bär ist kein Narr«, bemerkte Dareon.»Du wirst sicher Baumeister, und Jon wird sicher Grenzer. Er ist der beste Schwertkämpfer und der beste Reiter unter uns, und sein Onkel war Erster Grenzer, bevor er…«Seine Stimme verstummte unbeholfen, als er merkte, was er fast ausgesprochen hätte.
«Benjen Stark ist noch immer Erster Grenzer«, erklärte Jon Snow und spielte mit seiner Schale von Blaubeeren herum. Alle anderen mochten die Hoffnung auf eine sichere Heimkehr seines Onkels aufgegeben haben, er jedoch nicht. Er schob die Beeren von sich, hatte sie kaum angerührt, und erhob sich von der Bank.
«Willst du die nicht mehr essen?«fragte Toad.
«Nimm sie, wenn du willst. «Jon hatte von Hobbs großem Festmahl kaum gekostet.»Ich bringe keinen Bissen mehr herunter. «Er nahm seinen Umhang vom Haken an der Tür und ging hinaus.
Pyp folgte ihm.»Jon, was ist?«
«Sam«, seufzte er.»Er war heute abend nicht bei Tisch.«
«Es sieht ihm gar nicht ähnlich, daß er eine Mahlzeit ausläßt«, sagte Pyp nachdenklich.»Meinst du, er ist krank?«
«Er fürchtet sich. Wir verlassen ihn. «Er dachte an den Tag, als er Winterfell verlassen hatte, all die bittersüßen Abschiede, Bran mit gebrochenen Knochen, Robb mit Schnee im Haar, Arya, die ihn mit Küssen überhäufte, nachdem er ihr Needle geschenkt hatte.»Wenn wir erst unseren Eid abgelegt haben, werden wir uns um Pflichten zu kümmern haben. Manche von uns werden vielleicht fortgeschickt, nach Eastwatch oder zum Shadow Tower. Sam wird in der Ausbildung bleiben, mit Leuten wie Rast und Cuger und diesen neuen Jungen, die über die Kingsroad zu uns kommen. Die Götter allein wissen, wie sie sein werden, aber du kannst wetten, daß Ser Alliser sie gegen ihn aufhetzt, und zwar bei erster Gelegenheit.«
Pyp verzog das Gesicht.»Du hast getan, was du konntest.«
«Was wir tun konnten, hat nicht genügt«, erwiderte Jon.
Eine tiefe Rastlosigkeit erfüllte ihn, während er zum Hardin's Tower ging, um Ghost zu holen. Der Schattenwolf lief neben ihm zu den Ställen. Einige der scheueren Pferde traten gegen die Wände der Boxen und legten die Ohren an, als die beiden hereinkamen. Jon sattelte seine Stute, stieg auf und ritt aus Castle Black hinaus, gen Süden durch die mondbeschienene Nacht. Ghost lief voraus, flog über den Boden und war einen Augenblick später verschwunden. Jon ließ ihn laufen. Ein Wolf brauchte die Jagd.
Er hatte kein Ziel im Sinn. Er wollte nur reiten. Ein Stück weit folgte er dem Bach, lauschte dem eisigen Murmeln des Wassers, dann ritt er quer über die Felder zur Kingsroad. Schmal und steinig war sie, von Unkraut überzogen, eine Straße ohne bestimmtes Versprechen und doch ein Anblick, der in Jon unermeßliche Sehnsucht aufkommen ließ. Winterfell lag an dieser Straße, und jenseits davon Riverrun und King's Landing und die Eyrie und so viele andere Orte: Casterly Rock, die Insel der Gesichter, die roten Berge von Dorne, die hundert Inseln von Braavos im Meer, die qualmenden Ruinen des alten Valyria. All jene Orte, die Jon nie sehen würde. Die Welt lag an dieser Straße… und er war hier.
Hatte er seinen Eid erst abgelegt, wäre die Mauer seine Heimat, bis er das Alter von Maester Aemon erreicht hatte.»Noch habe ich den Eid nicht abgelegt«, murmelte er. Er war kein Ausgestoßener, der das Schwarz anlegen oder die Strafe für seine Verbrechen auf sich nehmen mußte. Er war aus freien Stücken hergekommen, und er konnte auch aus freien Stücken wieder gehen… solange er jene Worte nicht gesprochen hatte. Er mußte nur weiter reiten und konnte alles hinter sich lassen. Bis zum nächsten Vollmond wäre er wieder bei seinen Brüdern auf Winterfell.