Der alte Mann schien seine Zweifel zu ahnen.»Sag mir, Jon, wenn der Tag je kommen sollte, daß dein Hoher Vater zwischen der Ehre auf der einen Seite und denen, die er liebt, auf der anderen, wählen müßte, was würde er tun?«
Jon zögerte. Er wollte sagen, daß Lord Eddard sich niemals Schande machen würde, nicht einmal für die Liebe, doch irgendwo in seinem Inneren flüsterte eine leise, kluge Stimme: Er hat einen Bastard gezeugt, wo lag darin Ehre? Und deine Mutter, was ist mit seiner Pflicht ihr gegenüber, er will nicht einmal ihren Namen nennen.»Er würde tun, was richtig ist«, sagte er… laut heraus, um sein Zögern wettzumachen.»Um jeden Preis.«
«Dann ist Lord Eddard einer von zehntausend. Die meisten von uns sind nicht so stark. Was ist Ehre gegen die Liebe einer Frau? Was ist Pflicht gegen das Gefühl, einen neugeborenen Sohn in seinen Armen zu halten… oder die Erinnerung an das Lächeln eines Bruders? Wind und Worte. Wind und Worte. Wir sind nur Menschen, und die Götter haben uns für die Liebe gemacht. Das ist unser großer Ruhm und unsere große Tragödie.
Die Männer, welche die Nachtwache einst bildeten, wußten, daß nur ihr Mut das Reich vor der Finsternis des Nordens schützte. Sie wußten, daß sie ihre Treuepflicht nicht teilen durften, weil es ihre Entschlossenheit schwächte. Daher schworen sie, weder Frauen noch Kinder haben zu wollen.
Doch hatten sie Brüder und Schwestern. Mütter, die sie zur Welt brachten, Väter, die ihnen Namen gaben. Sie kamen aus einhundert zerstrittenen Königreichen, und sie wußten, daß sich die Zeiten ändern mochten, die Menschen hingegen nie. Also schworen sie außerdem, daß die Nachtwache nicht an den Schlachten jenes Reiches teilnehmen sollte, das sie schützten.
Sie hielten sich an ihren Schwur. Als Aegon Black Harren erschlug und sein Königreich forderte, war Harrens Bruder Lord Commander auf der Mauer, mit zehntausend Recken unter sich. Er zog nicht in die Schlacht. In jenen Tagen, als die Sieben Königslande noch sieben Königslande waren, verging die Spanne eines Menschenlebens nicht, ohne daß drei oder vier von ihnen miteinander im Streit lagen. Die Wache beteiligte sich nie daran. Als die Andalen die Meerenge überquerten und die Königreiche der Ersten Menschen auslöschten, hielten die Söhne der gestürzten Könige an ihren Schwüren fest und blieben an ihren Posten. So wurde es stets gehalten, seit unzähligen Jahren. Es ist der Preis der Ehre.
Ein Feigling kann so mutig wie jeder andere sein, wenn es nichts zu fürchten gibt. Und wir alle tun unsere Pflicht, wenn es uns nichts kostet. Wie leicht scheint es einem dann, den Weg der Ehre zu beschreiten. Doch früher oder später kommt im Leben eines jeden Mannes der Tag, an dem es nicht leicht ist, der Tag, an dem er sich entscheiden muß.«
Einige der Raben fraßen noch, und lange, sehnige Bissen hingen aus ihren Schnäbeln. Alle anderen schienen ihn zu beobachten. Jon fühlte die Last all jener winzigen, schwarzen Augen.»Und heute ist mein Tag gekommen… das wollt Ihr mir damit sagen?«
Maester Aemon wandte seinen Kopf und sah ihn mit seinen toten, weißen Augen an. Es war, als blickte er bis in sein Herz hinein. Jon fühlte sich nackt und bloß. Er nahm den Eimer in beide Hände und warf den Rest der Bissen durch das Gitter. Fleisch und Blut flog überallhin, zerstreute die Raben. Sie flogen auf, kreischten wild. Die schnelleren Vögel schnappten sich Brocken noch im Flug und schlangen sie gierig herunter. Jon ließ den leeren Eimer laut zu Boden fallen.
Der alte Mann legte ihm die welke, fleckige Hand auf die Schulter.»Es tut weh, Junge«, sagte er leise.»Oh, ja. Zu wählen schon immer hat es weh getan. Und so wird es immer sein. Ich weiß es.«
«Ich weiß es nicht«, sagte Jon bitter.»Niemand weiß es. Selbst wenn ich sein Bastard bin, ist er doch mein Vater…«
Maester Aemon seufzte.»Hast du mir denn nicht zugehört, Jon? Meinst du, du wärst der erste?«Er schüttelte den alten Kopf, eine Geste, die zu müde war, als daß Worte sie beschreiben konnten.»Dreimal hielten es die Götter für angebracht, meinen Eid zu prüfen. Einmal, als ich ein kleiner Junge war, einmal in der vollen Blüte meiner Manneskraft, einmal, als ich schon alt war. Inzwischen hatte mich meine Kraft verlassen, mein Augenlicht war trübe, doch diese letzte Wahl war so grausam wie die erste. Meine Raben brachten Neuigkeiten aus dem Süden, Worte, dunkler noch als ihre Flügel, vom Untergang meines Hauses, vom Tod meiner Sippe, von Schande und Elend. Was hätte ich tun können, alt, blind, gebrechlich? Ich war hilflos wie ein Säugling, und dennoch tat es weh, vergessen dazusitzen, während sie meines Bruders armen Enkelsohn niedermachten, und seinen Sohn und selbst dessen kleine Kinder…«
Jon erschrak, als er den Glanz von Tränen in den Augen des alten Mannes bemerkte.»Wer seid Ihr?«fragte er leise, fast ängstlich.
Ein zahnloses Lächeln bebte auf uralten Lippen.»Nur ein Maester der Citadel, in Diensten von Castle Black und der Nachtwache. In meinem Orden legen wir die Namen unserer Häuser ab, wenn wir den Eid sprechen und die Ordenskette nehmen. «Der alte Mann berührte seine Kette, die lose um den dünnen, fleischlosen Hals hing.»Mein Vater war Maekar, der Erste seines Namens, und mein Bruder Aegon regierte nach ihm an meiner Stelle. Mein Großvater nannte mich nach Prinz Aemon, dem Drachenritter, der sein Onkel war, oder sein Vater, je nachdem, welcher Legende man glauben will. Aemon hat er mich genannt… «
«Aemon… Targaryen?«Jon konnte es kaum glauben.
«Früher einmal«, sagte der alte Mann.»Früher einmal. Du siehst also, Jon, ich weiß es… und da ich es weiß, werde ich dir nicht sagen: Bleib oder geh. Diese Entscheidung mußt du für dich treffen und bis ans Ende deiner Tage damit leben. Genau wie ich. «Seine Stimme wurde zu einem Flüstern.»Genau wie ich… «
Daenerys
Als die Schlacht vorüber war, trieb Dany ihren Silbernen durch die Felder der Toten. Ihre Dienerinnen und die Männer ihres khas folgten ihr, lächelten und scherzten miteinander.
Dothrakische Hufe hatten die Erde aufgerissen und Roggen und Linsen in Grund und Boden getrampelt, während arakhs und Bögen eine schreckliche, neue Frucht gesät und sie mit Blut bewässert hatten. Sterbende Pferde hoben den Kopf und schrien sie an, während sie vorüberritt. Verwundete Männer stöhnten und beteten. Jagga rhan liefen zwischen ihnen umher, die Gnadenmänner mit ihren schweren Äxten, welche die Köpfe der Toten und der Sterbenden gleichermaßen ernteten. Ihnen folgte ein Schwarm kleiner Mädchen, die Pfeile aus den Leichen zogen und ihre Körbe damit füllten. Schließlich kamen die Hunde schnüffelnd heran, mager und hungrig, das wilde Rudel, das nie weit hinter dem khalasar blieb.
Die Schafe waren lange schon tot. Es schien Tausende davon zu geben, schwarz von Fliegen, und Pfeile ragten aus den Kadavern auf. Khal Ogos Reiter hatten das getan, wie Dany wußte. Kein Mann aus Drogos khalasar wäre so dumm, seine Pfeile zu vergeuden, wenn noch Schafhirten zu töten waren.
Die Stadt stand in Flammen, schwarze Rauchwolken türmten sich bedrohlich auf und stiegen in den grellblauen Himmel. Unter zerbrochenen Mauern aus getrocknetem Lehm galoppierten Reiter hin und her, schwangen ihre langen Peitschen, indes sie die Überlebenden aus dem qualmenden Schutt trieben. Die Frauen und Kinder aus Ogos khalasar gingen mit verdrossenem Stolz, selbst noch in der Niederlage und in Fesseln. Sie waren nun Sklaven, doch schienen sie das nicht zu fürchten. Mit den Bewohnern war es anders. Mit ihnen hatte Dany Mitleid. Sie hatte nicht vergessen, wie sich das
Entsetzen anfühlte. Mütter stolperten mit leeren, toten Gesichtern vorüber, zerrten schluchzende Kinder mit sich. Es waren nur wenige Männer darunter, Krüppel und Feiglinge und Großväter.
Ser Jorah sagte, die Menschen in diesem Land nannten sich die Lhazareen, die Dothraki bezeichneten sie als haesh rakhi, die Lämmermenschen. Früher hätte Dany sie für Dothraki gehalten, denn sie hatten dieselbe bronzefarbene Haut und auch die mandelförmigen Augen. Inzwischen sahen sie in ihren Augen fremd aus, untersetzt und flachgesichtig, das Haar unnatürlich kurzgeschoren. Sie waren Schafhirten und aßen Gemüse, und Khal Drogo sagte, ihr Platz sei südlich der Flußbiegung. Das Gras des Dothrakischen Meeres sei für Schafe nicht gedacht.