Argwöhnisch sah sich Arya um. Zwei Mann der Stadtwache standen am Eingang einer Gasse. Ihre Umhänge reichten bis fast auf den Boden, die dicke Wolle mit sattem Gold gefärbt. Ketten und Stiefel und Handschuhe waren schwarz. Einer trug ein Langschwert an seiner Hüfte, der andere einen Eisenknüppel. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Kuchen wich Arya ein Stück weit vom Karren zurück und hastete davon. Die Goldröcke hatten ihr keine weitere Beachtung geschenkt, doch allein wegen ihrer Anwesenheit zog sich Arya der Magen zusammen. Sie hatte sich so weit wie möglich von der Burg ferngehalten, aber selbst noch aus der Ferne konnte sie die Köpfe sehen, die oben auf den hohen, roten Mauern moderten. Schwärme von Krähen stritten lautstark um jeden einzelnen wie die Fliegen. In Flea Bottom hieß es, die Goldröcke hätten sich mit den Lannisters zusammengetan, ihren Kommandanten zum Lord gemacht, mit Landbesitz am Trident und einem Sitz im Königsrat.
Sie hatte noch anderes gehört, Erschreckendes, das in ihren Ohren keinen Sinn ergab. Manche behaupteten, ihr Vater habe König Robert ermordet und sei im Gegenzug von Lord Renly erschlagen worden. Andere beharrten darauf, daß Renly den König in trunkenem Bruderzwist umgebracht habe. Warum sonst sollte er in der Nacht wie ein gemeiner Dieb geflohen sein? Einer Geschichte zufolge war der König auf der Jagd von einem Keiler getötet worden, nach einer anderen war er gestorben, als er einen Keiler aß und sich dabei derart vollgestopft habe, daß er bei Tisch platzte. Nein, der König sei bei Tisch gestorben, sagten wieder andere, aber nur weil Varys, die Spinne, ihn vergiftet habe. Nein, es sei die Königin, die ihn vergiftet habe. Nein, er sei an den Pocken gestorben. Nein, er sei an einer Gräte erstickt.
In einem waren sich alle Geschichten einig: König Robert war tot. Die Glocken in den sieben Türmen der Großen Septe von Baelor hatten einen Tag und eine Nacht geläutet, und der Donner ihrer Trauer war wie eine bronzene Woge über die Stadt gerollt. So läuteten sie die Glocken nur beim Tod eines Königs, hatte ein Gerbersohn Arya erklärt.
Sie wollte nur nach Hause, King's Landing zu verlassen war hingegen nicht so einfach, wie sie gehofft hatte. Das Wort vom Krieg war in aller Munde, und die Goldröcke hockten dicht an dicht auf den Stadtmauern, wie die Fliegen auf… na, auf ihr zum Beispiel. Sie hatte in Flea Bottom geschlafen, auf Dächern und in Ställen, überall, wo sie Platz fand, sich hinzulegen, und sie hatte nicht lang gebraucht, um festzustellen, daß dieses Viertel seinen Namen zu Recht trug.
Jeden Tag seit ihrer Flucht aus dem Red Keep hatte Arya allen sieben Stadttoren einen Besuch abgestattet. Das Drachentor, das Löwentor und das Alte Tor waren verriegelt und verrammelt. Das Schlammtor und das Tor der Götter standen offen, doch nur für jene, die in die Stadt wollten. Die Wachen ließen niemanden hinaus. Wer Erlaubnis hatte, die Stadt zu verlassen, ging durchs Königstor oder durchs Eisentor, wo Soldaten der Lannisters mit roten Umhängen und löwenbesetzten Helmen die Wachtposten stellten. Als sie vom
Dach einer Taverne beim Königstor herunterspähte, sah Arya, daß sie Wagen und Kutschen durchsuchten, Reiter zwangen, ihre Satteltaschen zu öffnen, und jeden befragten, der versuchte, zu Fuß hinauszukommen.
Manchmal dachte sie daran, durch den Fluß zu schwimmen, doch der Blackwater Rush war breit und tief, und alle waren sich darin einig, daß seine Strömung böse und trügerisch war. Geld, um einen Fährmann oder eine Schiffspassage zu bezahlen, hatte sie nicht.
Ihr Hoher Vater hatte sie gelehrt, niemals zu stehlen, allerdings fiel es ihr immer schwerer, sich daran zu erinnern, wieso. Wenn sie nicht bald einen Weg hinausfände, würde sie womöglich von den Goldröcken entdeckt. Sie hatte nicht viel hungern müssen, seit sie wußte, wie man Vögel mit dem Stockschwert erlegt, nur fürchtete sie, von soviel Taubenfleisch würde ihr noch übel werden. Zwei davon hatte sie roh gegessen, bevor sie nach Flea Bottom gekommen war.
Im Bottom gab es Topfküchen entlang der Gassen, in denen Wannen voller Eintopf jahrelang schon köchelten, und man konnte einen halben Vogel gegen einen Kanten Brot vom gestrigen Tag und eine» Schale Braunes «tauschen, zudem schoben sie die andere Hälfte des Tiers sogar noch ins Feuer und grillten sie, solange man die Federn selbst rupfte. Arya hätte alles für einen Becher Milch und einen Zitronenkuchen gegeben, auch wenn das Braune gar nicht so übel war. Gewöhnlich war Gerste darin, dazu Karottenstücke und Zwiebeln und Rüben, und manchmal sogar ein Apfel, und obenauf schwamm ein Fettfilm. Meist versuchte sie, nicht über das Fleisch nachzudenken. Einmal hatte sie ein Stück Fisch bekommen.
Ein Problem war nur, daß bei den Topfküchen immer viel Betrieb herrschte, und selbst noch während sie ihr Essen verschlang, bemerkte Arya, wie man sie beobachtete. Manche starrten ihre Stiefel an, oder ihren Umhang, und sie wußte, was sie dachten. Bei anderen spürte sie fast, wie deren Blicke unter ihr Leder krochen. Sie wußte nicht, was sie dachten, und das machte ihr nur noch mehr angst. Ein paarmal folgte man ihr in die Gassen hinaus und jagte sie, doch bisher hatte noch niemand sie erwischen können.
Das silberne Armband, das sie hatte verkaufen wollen, war ihr an ihrem ersten Abend außerhalb der Burg gestohlen worden, nebst ihrem Bündel mit sauberen Kleidern, entwendet, als sie in einem ausgebrannten Haus abseits der Pig Alley schlief. Man hatte ihr nur den Umhang gelassen, in den sie sich eingerollt hatte, das Leder an ihrem Rücken, ihr hölzernes Übungsschwert.. und Needle. Sie hatte auf Needle gelegen, sonst wäre es ebenso weg gewesen. Es war mehr wert als alles andere zusammen. Seither hatte sich Arya angewöhnt, die Klinge mit ihrem Umhang an der Hüfte zu verbergen. Das Holzschwert trug sie in der linken Hand, wo jedermann es sehen konnte, um Räuber abzuschrecken, dennoch gab es Männer in den Topfküchen, die sich vermutlich nicht einmal von einer Streitaxt abschrecken ließen. Das genügte, ihr den Geschmack an Tauben und schalem Brot zu verleiden. Oft genug ging sie lieber hungrig ins Bett, als deren Blicke zu riskieren.
Wenn sie erst draußen vor der Stadt wäre, würde sie Beeren sammeln oder Obstgärten suchen, aus denen sie Äpfel und Kirschen stehlen konnte. Arya erinnerte sich, von der Kingsroad aus, auf dem Weg gen Süden, einige gesehen zu haben. Und sie konnte im Wald Wurzeln ausgraben, sogar Kaninchen jagen. In der Stadt konnte man nur Ratten und Katzen und dürre Hunde jagen. Die Topfkuchen gaben einem eine Faustvoll Kupferstücke für einen ganzen Welpenwurf, das hatte sie gehört, aber der Gedanke daran behagte ihr nicht.
Unterhalb der Mehlgasse breitete sich ein Labyrinth von verschlungenen Gassen und Querstraßen aus. Arya kämpfte sich durch die Menge und versuchte, Abstand zwischen sich und die Goldröcke zu bringen. Sie hatte gelernt, sich auf der Straßenmitte zu halten. Manchmal mußte sie Wagen oder Pferden ausweichen, aber wenigstens konnte man sie kommen sehen. Wenn man zu nah bei den Häusern blieb, hielten die Leute einen fest. In manchen Gassen blieb einem nichts anderes übrig, als an den Mauern entlang zu streichen. Die Häuser beugten sich derart weit vor, daß sie einander fast berührten.
Ein juchzende Bande kleiner Kinder kam vorbeigelaufen, jagte einen rollenden Reif. Grollend starrte Arya sie an, erinnerte sich an die Zeiten, in denen sie mit Bran und Jon und ihrem kleinen Bruder Rickon Reifen nachgejagt war. Sie fragte sich, wie groß Rickon geworden und ob Bran wohl traurig war. Sie hätte alles gegeben, wenn Jon hier gewesen wäre und sie» kleine Schwester «gerufen und ihr das Haar zerzaust hätte. Nicht, daß es hätte zerzaust werden müssen. Sie hatte ihr Spiegelbild in Pfützen gesehen, und zerzauster konnte man kaum sein. Sie hatte versucht, mit den Kindern zu sprechen, die sie auf der Straße traf, in der Hoffnung, daß sie Freunde finden würde, bei denen sie schlafen konnte, doch mußte sie wohl etwas Falsches gesagt haben. Die Kleinen sahen sie nur mit schnellen, argwöhnischen Blicken an und liefen davon, wenn sie zu nahe kam. Ihre großen Brüder und Schwestern stellten Fragen, die Arya nicht beantworten konnte, beschimpften sie und wollten sie bestehlen Gestern erst hatte ein mageres Mädchen, das barfuß lief und doppelt so alt wie sie war, sie niedergeschlagen, um ihr die Stiefel von den Füßen zu zerren, doch Arya hatte ihr mit dem Holzschwert eins ans Ohr gegeben.