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Eine Möwe kreiste über ihr, als sie sich einen Weg bergab nach Flea Bottom bahnte. Nachdenklich blickte Arya auf, doch war das Tier für ihren Stock zu weit entfernt. Die Möwe erinnerte sie ans Meer. Vielleicht war das der Ausweg. Old Nan hatte oft Geschichten von Jungen erzählt, die sich auf

Handelsgaleeren versteckten und in die Welt der Abenteuer hinaussegelten. Vielleicht konnte Arya es ihnen nachtun. Sie beschloß, dem Hafen einen Besuch abzustatten. Dieser lag ohnehin auf dem Weg zum Schlammtor, und dort war sie heute noch nicht gewesen.

An den Kaianlagen war es seltsam ruhig, als Arya dort ankam. Sie entdeckte ein weiteres Paar Goldröcke, die Seite an Seite über den Fischmarkt liefen, sie jedoch keines Blickes würdigten. Die Hälfte der Stände war leer, und ihr schienen weniger Schiffe dort zu liegen, als sie in Erinnerung hatte. Draußen auf dem Blackwater fuhren drei königliche Kriegsgaleeren in Formation, goldbemalte Rümpfe teilten das Wasser, während die Ruder sich hoben und senkten. Arya beobachtete sie eine Weile, dann machte sie sich auf den Weg am Wasser entlang.

Auf dem dritten Pier entdeckte sie Wachleute in grauen Wollumhängen, mit weißem Satin besetzt, und ihr blieb fast das Herz in der Brust stehen. Beim Anblick der Farben von Winterfell schössen ihr die Tränen in die Augen. Hinter ihnen schaukelte eine schlanke Handelsgaleere an ihrem Liegeplatz. Arya konnte den Namen am Rumpf nicht lesen. Die Worte waren seltsam, Myrisch, Bravoosi, vielleicht sogar Hochvalyrisch. Sie hielt einen vorbeigehenden Schauermann am Ärmel fest.»Bitte«, sagte sie,»was ist das für ein Schiff?«

«Das ist die Wind Witch aus Myr«, sagte der Mann.

«Sie ist noch immer hier«, platzte es aus Arya heraus. Der Schauermann warf ihr einen schiefen Blick zu, zuckte mit den Achseln und ging weiter. Arya rannte zum Pier. Die Wind Witch war das Schiff, das ihr Vater angeheuert hatte, damit es sie nach Hause brachte… und es wartete noch immer! Sie hatte gedacht, es wäre schon vor Ewigkeiten ausgelaufen.

Zwei der Wachleute würfelten, während der Dritte seine Runde machte, mit einer Hand am Knauf seines Schwertes. Da die Männer nicht sehen sollten, daß sie wie ein kleines Kind geweint hatte, blieb sie stehen und rieb sich die Augen. Ihre Augen ihre Augen ihre Augen, wieso nur…

Sieh mit deinen Augen, hörte sie Syrio flüstern.

Arya sah hin. Sie kannte alle Männer ihres Vaters. Die drei mit den grauen Umhängen waren Fremde.»Du«, rief der Mann, der seine Runden drehte.»Was willst du hier, Junge?«Die anderen beiden blickten von ihren Würfeln auf.

Arya konnte sich gerade noch beherrschen, wegzulaufen, denn sie wußte, täte sie das, wären sie ihr augenblicklich auf den Fersen. Sie zwang sich, näher heranzugehen. Sie suchten ein Mädchen, aber der hier hielt sie für einen Jungen. Dann wäre sie eben ein Junge.»Wollt Ihr eine Taube kaufen?«Sie zeigte ihm den toten Vogel.

«Verschwinde hier«, sagte der Wachmann.

Arya tat, wie ihr geheißen. Sie mußte ihre Angst nicht spielen. Hinter ihr machten sich die Männer wieder an ihre Würfel.

Sie hätte nicht sagen können, wie sie zurück nach Flea Bottom gekommen war, und sie atmete schwer, als sie die schmalen, gewundenen, ungepflasterten Straßen zwischen den Hügeln erreichte. Der Bottom hatte einen Gestank an sich, einen Gestank nach Schweinestall und Pferdestall und Gerberhütte, vermischt mit dem säuerlichen Geruch von Weinstuben und billigen Hurenhäusern. Benommen suchte sich Arya einen Weg durchs Labyrinth. Erst als ein Hauch von blubberndem Braunem sie umwehte, der aus einer Topfküchentür kam, fiel ihr auf, daß ihre Taube weg war. Sie mußte ihr wohl beim Laufen aus dem Gürtel gerutscht sein, oder jemand hatte sie gestohlen und sie hatte es nicht gemerkt. Einen Moment lang hätte sie wieder weinen können. Also würde sie den ganzen Weg zur Mehlgasse noch einmal gehen müssen, um so eine dicke zu finden.

Weit drüben, auf der anderen Seite der Stadt, fingen die Glocken an zu läuten.

Arya blickte auf, lauschte, überlegte, was das Läuten diesmal

bedeuten mochte.

«Was ist das jetzt?«rief ein dicker Mann aus der Topfküche.

«Die Glocken läuten schon wieder, die Götter stehn uns bei«, jammerte eine alte Frau.

Eine rothaarige Hure in einem Fetzen aus bemalter Seide stieß im ersten Stockwerk einen Fensterladen auf.»Ist der Kindskönig jetzt gestorben?«rief sie herab, beugte sich über die Straße hinaus.»Ach, so ist das mit den Jungen, die bleiben nie lang. «Indem sie lachte, schlang ein nackter Mann von hinten seine Arme um sie, biß ihr in den Nacken und knetete ihre schweren Brüste.

«Dämliche Schlampe«, rief der dicke Mann hinauf.»Der König ist nicht tot, die Glocken läuten, damit wir uns versammeln. Ein Turm läutet. Wenn der König stirbt, läuten sie alle Glocken in der Stadt.«

«Hier, hör auf zu beißen, sonst läute ich deine Glocken«, sagte die Frau im Fenster zu dem Mann hinter sich und stieß ihn mit dem Ellenbogen.»Und wer ist dann gestorben, wenn nicht der König?«

«Das gilt uns allen«, rief der dicke Mann.

Zwei Jungen in Aryas Alter hasteten vorüber, platschten durch eine Pfütze. Die alte Frau verfluchte sie, doch rannten sie weiter. Auch andere Leute setzten sich in Bewegung und liefen den Hügel hinauf, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Arya schloß sich dem langsameren Jungen an.»Wohin willst du?«rief sie, als sie direkt hinter ihm war.»Was ist los?«

Er sah sich um, ohne langsamer zu werden.»Die Goldröcke bringen ihn zur Septe.«

«Wen?«schrie sie im Laufen.

«Die Hand! Sie wollen ihm den Kopf abschlagen, sagt Buu.«

Ein Wagen hatte eine tiefe Furche in der Straße hinterlassen. Der Junge sprang darüber, Arya übersah sie. Sie stolperte und fiel, mit dem Gesicht voran, schlug sich das Knie an einem Stein auf und dann die Finger, als ihre Hände über den festgetretenen Boden schrammten. Needle verfing sich zwischen ihren Beinen. Schluchzend kam sie wieder auf die Beine. Der Daumen ihrer linken Hand war voller Blut. Als sie daran leckte, sah sie, daß der halbe Daumennagel fort war, im Sturz herausgerissen. Ihre Hände schmerzten, und auch ihr Knie war blutig.

«Macht Platz!«rief jemand aus der Querstraße.»Macht Platz für die Lords von Redwyne!«Arya konnte gerade eben noch zur Seite springen, bevor vier Gardisten auf riesigen Pferden im Galopp vorüberstürmten. Sie trugen karierte Umhänge, blau und rot. Hinter ihnen ritten zwei junge Lords Seite an Seite auf kastanienbraunen Stuten, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Hundertmal schon hatte Arya sie bei Hofe gesehen. Die Redwyne-Zwillinge, Ser Horas und Ser Hobber, unscheinbare Jungen mit hellrotem Haar und eckigen Gesichtern voller Sommersprossen. Sansa und Jeyne Poole hatten sie stets Ser Horror und Ser Slobber genannt und jedesmal gekichert, wenn sie ihnen begegneten. Jetzt sahen sie keineswegs komisch aus.

Alles drängte in dieselbe Richtung, alle in Eile, sich anzusehen, was es mit dem Läuten auf sich hatte. Inzwischen schienen die Glocken lauter geworden zu sein, schallend, rufend. Arya schloß sich dem Strom der Menschen an. Ihr Daumen schmerzte dort, wo der Nagel gebrochen war, so sehr, daß sie fast weinen mußte. Sie biß sich auf die Lippen, während sie humpelte und den aufgeregten Stimmen um sich lauschte.

«… die Rechte Hand des Königs, Lord Stark. Sie bringen ihn hinauf zur Septe von Baelor.«»Ich dachte, er wäre tot.«

«Bald schon, bald schon. Hier habe ich einen Silberhirschen, auf dem steht, daß sie ihm den Schädel abschlagen.«