Vor Zwölftausend Jahren etwa erschienen die Ersten Menschen von Osten her, überquerten den Gebrochenen Arm von Dorne, bevor er gebrochen war. Sie kamen mit bronzenen Schwertern und großen Lederschilden und ritten auf Pferden. Kein Pferd war je zuvor diesseits der Meerenge gewesen. Zweifellos fürchteten sich die Kinder vor den Pferden ebensosehr wie die Ersten Menschen vor den Gesichtern an den Bäumen. Als die Ersten Menschen Festungen und Höfe anlegten, fällten sie die Gesichter und übergaben sie dem Feuer. Voller Entsetzen zogen die Kinder in den Krieg. In den alten Liedern heißt es, die Grünseher hätten dunkle Zauberkräfte eingesetzt, damit sich das Meer erhob und das
Land mit sich riß, was den Arm zerschlug, doch war es zu spät, diese Tür zu schließen. Die Kriege gingen weiter, bis sich die Erde vom Blut der Ersten Menschen und der Kinder gleichermaßen rot einfärbte, mehr jedoch von den Kindern als von den Menschen, denn diese waren größer und stärker, und Holz und Stein und Obsidian können der Bronze nur schwer standhalten. Schließlich obsiegte die Weisheit beider Rassen, und die Häuptlinge und Helden der Ersten Menschen trafen sich mit den Grünsehern und Holztänzern inmitten der Wehrholzhaine einer kleinen Insel in dem großen See, den man God's Eye nennt.
Dort schmiedeten sie den Pakt. Die Ersten Menschen bekamen die Küstenländer, die Hochebenen und das Weideland, die Berge und Sümpfe, doch die tiefen Wälder sollten auf ewig den Kindern gehören, und im ganzen Reich sollte kein Wehrholzbaum je wieder einer Axt zum Opfer fallen. Damit die Götter Zeugen der Unterzeichnung werden konnten, bekam jeder Baum der Insel ein Gesicht, und danach gründete man den heiligen Orden der grünen Männer, die über die Insel der Gesichter wachen sollten.
Mit dem Pakt begannen viertausend Jahre Freundschaft zwischen den Menschen und den Kindern. Nach einiger Zeit legten die Ersten Menschen sogar die Götter ab, die sie mitgebracht hatten, und begannen, die geheimen Götter des Waldes anzubeten. Mit der Unterzeichnung des Paktes endete die Erdendämmerung, und das Heldenzeitalter begann.«
Brans Faust ballte sich um die schimmernd schwarze Pfeilspitze.»Aber jetzt gibt es keine Kinder des Waldes mehr, sagt Ihr.«
«Hier nicht«, sagte Osha, als sie das Ende des letzten Verbandes mit den Zähnen abbiß.»Nördlich der Mauer sieht es anders aus. Dorthin sind die Kinder gegangen, und die Riesen und die anderen alten Rassen.«
Maester Luwin seufzte.»Weib, eigentlich solltest du tot oder in Ketten sein. Die Starks haben dich besser behandelt, als du es verdient hättest. Es ist undankbar, daß du ihnen ihre Freundlichkeit heimzahlst, indem du ihren Jungen solche Narreteien einbläst.«
«Sagt mir, wo sie geblieben sind«, verlangte Bran.»Ich möchte es wissen.«
«Ich auch«, plapperte Rickon nach.
«Nun, also gut«, murmelte Luwin.»Solange die Königreiche der Ersten Menschen bestanden, hielt der Pakt während des gesamten Heldenzeitalters und durch die Lange Nacht und über die Geburt der Sieben Königslande hinaus, schließlich kam aber eine Zeit, viele Jahrhunderte später, als andere Völker die Meerenge überquerten.
Die Andalen waren die ersten, eine Rasse von hochgewachsenen, blonden Kriegern, die mit Stahl und Feuer und dem siebenzackigen Stern der neuen Götter — auf ihre Brust gemalt — herüberkamen. Die Kriege dauerten Hunderte von Jahren, doch am Ende fielen ihnen alle sechs südlichen Königreiche zu. Nur hier, wo der König des Nordens jede Armee zurückwarf, die versuchte, den Neck zu überqueren, dauerte die Herrschaft der Ersten Menschen an. Die Andalen brannten die Wehrholzhaine nieder, hackten die Gesichter heraus, mordeten die Kinder, wo immer sie ihnen begegneten, und verkündeten überall den Triumph der Sieben über die alten Götter. Also flohen die Kinder in den Norden… «
Summer fing an zu heulen.
Maester Luwin hielt verdutzt inne. Als Shaggydog aufsprang und ins Heulen seines Bruders einfiel, war Brans Herz von Furcht ergriffen.»Sie kommt«, flüsterte er mit sicherer Verzweiflung. Seit der letzten Nacht schon hatte er es gewußt, wie ihm nun klarwurde, seit ihn die Krähe hinunter in die Gruft geführt hatte, um Abschied zu nehmen. Er hatte es gewußt, nur hatte er es nicht geglaubt. Er hatte gewollt, daß Maester Luwin recht behielt. Die Krähe, dachte er, die dreiäugige Krähe…
Das Geheul erstarb so plötzlich, wie es begonnen hatte. Summer tappte über den Boden der Turmkammer zu Shaggydog hinüber und begann, an dem blutig verfilzten Fell hinten am Hals seines Bruders herumzulecken. Vom Fenster her war ein Flattern von Flügeln zu hören.
Ein Rabe landete auf der grauen Steinmauer, machte seinen Schnabel auf und gab ein harsches, heiseres, kummervolles Krächzen von sich.
Rickon begann zu weinen. Eine Pfeilspitze nach der anderen glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Bran zog ihn an sich und nahm ihn in den Arm.
Maester Luwin starrte den schwarzen Vogel an, als wäre er ein Skorpion mit Flügeln. Er stand auf, langsam wie ein Schlafwandler, und trat ans Fenster. Als er pfiff, hüpfte der Rabe auf seinen bandagierten Unterarm. Getrocknetes Blut war an seinen Flügeln zu sehen.»Ein Falke«, murmelte Luwin,»vielleicht eine Eule. Armes Tier. Ein Wunder, daß es durchgekommen ist. «Er löste den Brief vom Bein des Vogels.
Bran spürte, wie er zitterte, als der Maester das Papier entrollte.»Was steht da?«sagte er und hielt seinen Bruder noch um so fester.
«Du weißt, was es ist, Junge«, sagte Osha nicht unfreundlich. Sie legte ihm die Hand auf den Kopf.
Benommen blickte Maester Luwin sie an, ein kleiner, grauer Mann mit Blut am Ärmel seiner grauen Wollrobe und Tränen in den hellen, grauen Augen.»Mylords«, sagte er zu den Söhnen mit heiserer und leiser Stimme,»wir… wir werden einen Steinmetz finden müssen, der sein Angesicht gut kannte… «
Sansa
In der Turmkarnmer im Herzen von Maegar's Holdfast gab sich Sansa der Dunkelheit hin.
Sie zog die Vorhänge um ihr Bett zu, schlief, erwachte weinend und schlief erneut. Wenn sie nicht schlafen konnte, lag sie, bebend vor Trauer, unter ihrer Decke. Dienerinnen kamen und gingen, brachten Mahlzeiten, doch der bloße Anblick des Essens war mehr, als sie ertragen konnte. Die Teller stapelten sich auf dem Tisch unter ihrem Fenster, unangetastet und schimmelnd, bis die Dienerinnen sie hinaustrugen.
Manchmal war ihr Schlaf bleiern und traumlos, und sie wachte müder auf als zu dem Zeitpunkt, da sie die Augen schloß. Dennoch war dies ihre beste Zeit, denn wenn sie träumte, träumte sie von Vater. Wach oder im Schlaf, sie sah ihn, sah, wie die Goldröcke ihn zu Boden stießen, sah, wie Ser Ilyn vortrat, Ice aus der Scheide auf seinem Rücken zog, sah den Augenblick… den Augenblick, als sie sich hatte abwenden wollen, sie hatte es gewollt, die Beine hatten unter ihr nachgegeben, und sie war auf die Knie gefallen, trotzdem hatte sie sich irgendwie nicht abwenden können, und alle Leute schrien und kreischten, und ihr Prinz hatte sie angelächelt, er hatte gelächelt, und sie hatte sich sicher gefühlt, nur einen Herzschlag lang, bis er jene Worte sagte und die Beine ihres Vaters… das war es, woran sie sich erinnerte, seine Beine, wie sie gezuckt hatten, als Ser Ilyn… als das Schwert…
Vielleicht werde auch ich sterben, sagte sie sich, und der Gedanke erschien ihr gar nicht so schrecklich. Wenn sie sich aus dem Fenster stürzte, konnte sie ihrer Pein ein Ende bereiten, und in kommenden Jahren würden Sänger Lieder über ihr Leid dichten. Ihr Leib läge unten auf den Steinen, zerschmettert und unschuldig, zur Schande aller, die sie verraten hatten. Sansa ging so weit, daß sie ihre Schlafkammer durchmaß und die Läden aufwarf… dann verließ sie der Mut, und schluchzend lief sie zurück zu ihrem Bett.