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»Aber ja.« Er warf das Gerippe des Blattes fort. »Aber eines Tages wirst du mir alles erzählen?«

Sie nickte. »Ich verspreche es dir. Wenn ich kann.«

»Gut«, sagte er. »Schließlich bin ich ein ›Sucher nach der Wahrheit‹.«

Kahlan blieb abrupt stehen, riß an seinem Ärmel, wirbelte ihn herum und zwang ihn, in ihre weit aufgerissenen Augen zu sehen.

»Warum hast du das gesagt?« wollte sie wissen.

»Was? Meinst du den ›Sucher nach der Wahrheit‹? Zedd nennt mich so. Seit ich klein war. Er meint, ich bestehe immer darauf, die Wahrheit der Dinge zu erfahren, also nennt er mich ›Sucher nach der Wahrheit‹.« Ihre Aufgeregtheit überraschte ihn. Er kniff die Augen zusammen. »Wieso?«

Sie wollte weiter. »Schon gut.«

Irgendwie schien er einen wunden Punkt berührt zu haben. Sein Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, begann sich einen Weg in seine Gedanken zu bahnen. Sie wurde verfolgt, weil jemand die Wahrheit fürchtete, überlegte er. Und dann reagierte sie bestürzt, als er sich als ›Sucher nach der Wahrheit‹ bezeichnete. Vielleicht hatte sie Angst vor ihm.

»Kannst du mir wenigstens verraten, wer diese Leute sind, die dich verfolgen?«

Sie blickte stur auf den Weg und ging weiter neben ihm her. Er wußte nicht, ob sie ihm antworten würde. Schließlich tat sie es doch.

»Es handelt sich um die Gefolgsleute eines sehr bösartigen Mannes. Sein Name ist Darken Rahl. Bitte, stell mir jetzt keine weiteren Fragen. Ich möchte nicht an ihn denken.«

Darken Rahl. Wenigstens wußte er jetzt den Namen.

Die Spätnachmittagssonne stand hinter den Hügeln der Wälder Kernlands. Es wurde kühler, als sie die sacht geschwungenen, mit Laubwald bestandenen Hügel des Kernlandwaldes passierten. Niemand sagte etwas. Ihm lag ohnehin nicht viel an der Unterhaltung, denn seine Hand schmerzte, außerdem war ihm ein wenig schwindelig. Ein Bad und ein warmes Bett waren alles, was er jetzt wollte. Das Bett überließ er besser ihr, dachte er. Er würde in seinem Lieblingssessel schlafen, dem, der immer knarrte. Es war ein langer Tag gewesen, und ihm tat jeder Knochen im Leibe weh.

An einem Birkenwäldchen bog er auf den schmalen Pfad ab, der zu seinem Haus hinaufführte. Er beobachtete sie, wie sie vor ihm auf dem schmalen Pfad herging und sich die Spinnennetze, die quer über den Weg gespannt waren, von Gesicht und Armen zupfte.

Richard hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Außer seinem Messer und anderen Dingen, die er mitzunehmen vergessen hatte, gab es noch etwas anderes, das er unbedingt haben mußte, etwas Wichtiges, das sein Vater ihm gegeben hatte.

Als sein Vater ihm das Geheimnis verraten und ihn zu dessen Hüter gemacht hatte, hatte er Richard etwas gegeben, das er immer aufbewahren sollte, als Beweis dafür, daß er der rechtmäßige Eigentümer des Geheimen Buches war und daß es nicht gestohlen, sondern gerettet worden war, um sicher verwahrt zu werden. Es war ein dreieckiger Zahn, drei Finger breit. Richard hatte ein Lederband daran befestigt, damit er ihn immer um seinen Hals tragen konnte. Doch törichterweise hatte er das Haus verlassen, ohne ihn, sein Messer oder seinen Rucksack mitzunehmen. Er brannte darauf, ihn um seinen Hals zu tragen. Ohne ihn wurde sein Vater zu einem Dieb, genau wie Michael gesagt hatte.

Weiter oben, nach einer freien Fläche blanken Felsens, machten Ahorne, Eichen und Birken den Rottannen Platz. Das Grün des Waldbodens wich einer weichen, braunen Schicht Nadeln. Während sie weitergingen, beschlich ihn eine unangenehme Vorahnung. Sachte zupfte er Kahlan am Ärmel und hielt sie zurück.

»Laß mich vorgehen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Sie blickte ihn an und gehorchte, ohne zu fragen. Während der nächsten halben Stunde ging er langsamer und betrachtete den Boden und jeden Ast in der Nähe des Pfades. Am Fuß des letzten Hügelkamms vor seinem Haus blieb Richard stehen und ging neben einem Farngestrüpp in die Hocke.

»Was ist?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht gar nichts«, flüsterte er, »aber heute nachmittag ist jemand den Pfad hinaufgegangen.« Er hob einen plattgetretenen Fichtenzapfen auf und betrachtete ihn eine Weile, bevor er ihn fortwarf.

»Woher weißt du das?«

»Die Spinnweben.« Er sah den Hügel hinauf. »Jemand ist den Pfad hinaufgegangen und hat sie zerrissen. Die Spinnen hatten noch keine Zeit, neue zu spinnen, darum sind keine da.«

Kahlan runzelte verdutzt die Stirn. »Als ich vorging, waren überall Spinnweben. Alle zehn Schritte mußte ich sie mir aus dem Gesicht zupfen.«

»Genau das meine ich«, flüsterte er. »Den Teil des Pfades ist den ganzen Tag über niemand hinaufgegangen, aber seit der freien Fläche, die wir überquert haben, waren keine mehr zu sehen.«

»Wie ist das möglich?«

Er schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Entweder ist hinten bei der Lichtung jemand aus dem Wald gekommen und den Pfad hinaufgegangen, was recht mühsam ist.« Er sah ihr in die Augen. »Oder er ist aus dem Himmel gefallen. Mein Haus liegt hinter diesem Hügel. Halten wir die Augen offen.«

Richard führte sie vorsichtig die Steigung hinauf, dabei behielten sie den Wald im Auge. Am liebsten wäre er in die andere Richtung davongerannt, fort von hier, aber das war unmöglich. Niemals würde er ohne den Zahn davonlaufen, den ihm sein Vater zur Aufbewahrung anvertraut hatte.

Auf dem Kamm des Hügels gingen sie hinter einer dicken Fichte in die Hocke und blickten hinunter zum Haus. Die Fenster waren eingeschlagen, und die Tür, die er immer verschloß, stand offen. Seine Besitztümer lagen auf dem Boden verstreut.

Richard richtete sich auf. »Man hat es geplündert, genau wie das meines Vaters.«

Sie riß ihn an seinem Hemd zurück nach unten.

»Richard!« flüsterte sie alarmiert. »Vielleicht ist dein Vater ebenso nach Hause gekommen. Vielleicht ist er hineingegangen, wie du es eben tun wolltest, und sie haben nur auf ihn gewartet.«

Sie hatte natürlich recht. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und überlegte. Dann sah er wieder zum Haus. Die Rückseite war dicht am Waldrand, die Tür hingegen ging auf die Lichtung hinaus. Es war die einzige Tür. Jeder im Haus mußte annehmen, daß er durch sie hineinkommen würde. Dort würden sie warten, wenn sie drinnen waren.

»Also gut«, erwiderte er. »Aber ich muß etwas von drinnen holen. Ohne das gehe ich nicht. Wir können uns von hinten anschleichen, ich hole es raus, und dann verschwinden wir von hier.«

Richard hätte sie lieber nicht mitgenommen, wollte sie aber auch nicht allein auf dem Pfad warten lassen. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Wald, durch das dichte Gestrüpp, umrundeten das Haus in weitem Bogen. Als er die Stelle erreicht hatte, von wo aus er sich der Rückseite nähern konnte, gab er ihr ein Zeichen zu warten. Er wollte nicht, daß sie erwischt wurde, falls jemand im Haus war.

Er ließ Kahlan unter einer Fichte zurück und näherte sich vorsichtig im Zickzack dem Haus, blieb auf Flächen mit weichen Nadeln, um nicht auf trockenes Laub zu treten. Endlich erblickte er das Schlafzimmerfenster. Er blieb still stehen und lauschte. Nicht das geringste war zu hören. Vorsichtig schritt er vorwärts. Unter seinen Füßen bewegte sich etwas. Eine Schlange wand sich an seinem Fuß vorbei. Er wartete, bis sie weg war.

An der verwitterten Rückseite des Hauses angekommen, legte er seine Hand vorsichtig auf den nackten, hölzernen Fensterrahmen und hob den Kopf weit genug, um hineinspähen zu können. Das Glas war größtenteils herausgebrochen, und er konnte das heillose Durcheinander sehen, das in seinem Schlafzimmer herrschte. Das Bettzeug war aufgeschlitzt. Wertvolle Bücher waren auseinandergerissen, ihre Seiten lagen verstreut auf dem Fußboden. Die Tür zum Wohnzimmer an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand ein Stück offen, aber nicht weit genug, um dahinter etwas erkennen zu können. Wenn man keinen Keil darunterschob, klemmte die Tür immer an dieser Stelle. Langsam steckte er den Kopf durch das Fenster und blickte auf sein Bett. Unter dem Fenster befand sich der Bettpfosten, an dem sein Rucksack und das Lederband mit dem Zahn hingen — genau dort, wo er sie gelassen hatte. Er hob den Arm und wollte durch das Fenster hineingreifen.