Mittlerweile hatten die Menschen aus den Midlands jedoch gemerkt, was er vorhatte, und waren nicht mehr so leicht zu täuschen. Sie wußten, die Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit ihm kam der Unterzeichnung einer Kriegserklärung oder Kapitulation gleich. Sie beschlossen, frei zu bleiben. Panis Rahl warf die ganze Macht D'Haras gegen sie. Viele Jahre lang tobte der Krieg, in dessen Verlauf immer mehr Menschen aus den freien Ländern sich ihnen anschlossen, denn sie hatten begriffen: Panis Rahl würde sich nie mit dem Erreichten zufriedengeben. Sie hatten erkannt, wie unersättlich er war.«
Kahlan zerbrach den nächsten Ast und warf ihn ins Feuer. »Dann wurde sein Vormarsch gestoppt und kam schließlich zum Stillstand, und Rahl nahm Zuflucht zur Zauberei. Auch in D'Hara gibt es Zauberei, nicht nur in den Midlands. Damals gab es sie überall. Die Länder waren nicht voneinander getrennt, es gab keine Grenzen. Wie auch immer, Panis Rahl erwies sich in seinem Gebrauch von Zauberei gegen die freien Völker als skrupellos. Er war fürchterlich brutal.«
»Was für eine Art Zauber war das? Was hat er getan?«
»Zum Teil ging es um Gaunereien, Krankheiten, Fieber. Das Schlimmste jedoch waren die Schattenmenschen.«
Richard runzelte die Stirn. »Schattenmenschen? Was ist das?«
»Schatten in der Luft. Schattenmenschen haben keine feste Gestalt, keine exakten Umrisse. Sie leben nicht einmal in dem Sinne, wie wir es kennen. Es sind aus der Magie geborene Geschöpfe.« Sie machte eine ausholende Handbewegung. »Sie kamen über ein Feld oder durch den Wald herangeschwebt. Waffen haben gegen sie keine Wirkung. Schwerter und Pfeile gehen durch sie hindurch, als wären sie nicht mehr als Rauch. Verstecken kann man sich nicht. Schattenmenschen können einen überall sehen. Sie schweben an einen Menschen heran und berühren ihn. Durch die Berührung beginnt der ganze Körper Blasen zu werfen, anzuschwellen und schließlich zu platzen. Niemand, der von einem Schattenmenschen berührt wurde, hat es überlebt. Man hat ganze Bataillone gefunden, die bis auf den letzten Mann aufgerieben wurden.«
Sie zog ihre Hand unter die Decke zurück. »Als Panis Rahl dazu überging, die Magie auf diese Weise zu mißbrauchen, stellte sich ein großer und ehrenvoller Magier auf die Seite der Midlands.«
»Wie lautete der Name dieses großen und ehrenvollen Magiers?«
»Das ist ein Teil der Geschichte. Nur Geduld.«
Richard rührte einige Gewürze in die Suppe und lauschte aufmerksam, während sie fortfuhr.
»In der Schlacht waren Tausende umgekommen, doch die Magie tötete noch mehr. Es war eine düstere Zeit. Furchtbar, als man nach all den Jahren des Kampfes so viele durch den von Rahl herbeibeschworenen Zauber sterben sehen mußte. Doch mit Hilfe des großen Magiers, der Panis Rahls Zauber im Zaume hielt, wurden seine Legionen nach D'Hara zurückgetrieben.«
Richard legte einen Birkenast nach. »Wie hat dieser große und ehrenvolle Magier die Schattenmenschen aufgehalten?«
»Er beschwor Schlachthörner für die Truppen herbei. Als die Schattenmenschen vordrangen, bliesen unsere Männer in die Hörner, und der Zauber wehte die Schattenmenschen davon wie der Wind den Rauch. Dadurch neigte sich der Ausgang der Schlacht zu unseren Gunsten.
Die Kriege waren verheerend gewesen. Dennoch kam man zu dem Schluß, ein Einmarsch nach D'Hara, um Rahl und seine Truppen zu zerstören, sei zu teuer. Aber man mußte etwas unternehmen, um Panis Rahl an einem erneuten Versuch zu hindern, den er sicher unternehmen würde. Außerdem fürchteten sich viele mehr vor dem Zauber als vor den Horden aus D'Hara und wollten nie wieder etwas damit zu tun haben. Sie wollten einen Ort zum Leben, an dem es keine Magie mehr gab. Für diese Leute wurde Westland abgetrennt. So entstanden die drei Länder. Die Grenzen wurden mit Hilfe der Magie errichtet … sie selbst sind jedoch keine Magie.«
Richard sah sie an, während sie in die Ferne blickte. »Und was sind sie nun?«
Sie hatte den Kopf abgewendet, trotzdem sah er, wie sie kurz die Augen schloß. Sie nahm den Löffel und kostete die noch unfertige Suppe. Dann sah sie ihn an, als wollte sie fragen, ob er das wirklich wissen wollte. Richard wartete.
Kahlan blickte in das Feuer. »Die Grenzen sind Teil der Unterwelt. Des Totenreichs. Sie wurden durch Magie in unsere Welt heraufbeschworen, um die drei Länder zu teilen. Sie sind wie ein Vorhang, den man vor unsere Welt gezogen hat. Ein Riß durch die Welt der Lebenden.«
»Soll das heißen, wenn man die Grenze betritt, fällt man durch einen Spalt in eine andere Welt? In die Unterwelt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Unsere Welt ist noch da. Gleichzeitig befindet sich die Unterwelt am selben Ort. Bis zur Grenze, der Unterwelt, sind es etwa zwei Tagesmärsche. Aber mit dem Grenzgebiet durchschreitet man gleichzeitig die Unterwelt. Es ist eine Wüste. Jedes Leben, das die Unterwelt berührt oder von ihr berührt wird, berührt den Tod. Aus diesem Grund kann niemand die Grenze überqueren. Sobald man sie betritt, betritt man das Reich der Toten. Aus diesem Reich kehrt niemand zurück.«
»Und wie hast du es geschafft?«
Sie schluckte und sah ins Feuer. »Durch Magie. Die Grenze wurde durch Magie hierhergebracht, daher meinten die Zauberer, sie könnten mich ebenfalls mit Hilfe und unter dem Schutz von Magie sicher hindurchbringen. Es war erschreckend schwer für sie, die Zauber auszusprechen. Sie hatten mit Dingen zu tun, die sie nicht vollständig verstanden, gefährlichen Dingen. Außerdem waren nicht sie es gewesen, die die Grenze in diese Welt heraufbeschworen hatten, daher waren sie nicht sicher, ob es gelingen würde. Keiner von uns wußte, was ihn erwartete.« Ihre Stimme schwand, wurde entrückt: »Ich bin zwar durchgekommen, doch ich fürchte, ich werde die Grenze nie mehr vollständig verlassen können.«
Richard war fasziniert. Der Gedanke, daß sie sich dem hatte aussetzen müssen und daß sie einen Teil der Unterwelt durchquert hatte, sei es auch mit Hilfe von Magie, bestürzte ihn. Unvorstellbar. Ihre verängstigten Augen begegneten seinen. Augen, die Dinge erblickt hatten, die kein anderer zuvor erfahren hatte.
»Erzähl mir, was du dort gesehen hast«, flüsterte er.
Ihre Haut wurde aschfahl. Sie sah wieder ins Feuer. Es knackte, sie fuhr zusammen. Ihre Unterlippe begann zu beben, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, in denen sich das Flackern des Feuers spiegelte. Sie starrte ins Leere.
»Zuerst«, sagte sie mit entrückter Stimme, »war es, als liefe man in Wände aus kaltem Feuer, wie man sie nachts am Nordhimmel sieht.« Ihr Atem wurde schwer. »Im Innern ist man jenseits der Finsternis.« Ihre Augen waren feucht. Beim Ausatmen stöhnte sie unfreiwillig. »Jemand … war … bei mir.«
Sie drehte sich verwirrt zu ihm um, schien nicht zu wissen, wo sie war. Ihr qualvoller Blick entsetzte ihn. Diese Qual hatte er mit seiner Frage ausgelöst. Sie legte sich die Hand auf den Mund, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Mit geschlossenen Augen stieß sie einen schwachen Klagelaut aus. Richard bekam eine Gänsehaut.
»Meine … Mutter«, schluchzte sie. »Ich habe sie so viele Jahre nicht gesehen … und meine tote Schwester … Dennee … ich bin so allein … und voller Angst…«, weinend rang sie nach Luft.
Er schien sie an die mächtigen Geister zu verlieren, die sie in der Unterwelt gesehen hatte. Es war, als zögen sie sie zu sich herab. Verzweifelt legte Richard ihr die Hände auf die Schulter und riß sie zu sich herum.
»Kahlan, sieh mich an!«
»Dennee…«, schluchzte sie mit bebender Brust und versuchte, sich loszureißen.
»Kahlan!«
»Ich bin so allein … hab' solche Angst…«