»Kahlan! Ich bin doch bei dir! Sieh mich an!«
Sie weinte, von Krämpfen geschüttelt, weiter, rang nach Luft. Ihre Augen standen offen, nahmen ihn jedoch nicht wahr.
»Du bist nicht allein, ich bin hier bei dir! Ich werde dich nicht verlassen!«
»Ich bin so allein«, klagte sie.
Er schüttelte sie, wollte sie dazu bringen, zuzuhören. Ihre Haut war bleich und totenkalt. Sie rang nach Luft. »Ich bin doch hier, du bist nicht allein!« Verzweifelt schüttelte er sie noch einmal, doch es nutzte nichts. Er war dabei, sie zu verlieren.
Richard versuchte, seine aufkeimende Angst in den Griff zu bekommen, und tat das einzige, was ihm einfiel. Er war in der Vergangenheit schon oft von solcher Angst überfallen worden und hatte gelernt, sie zu beherrschen. Diese Beherrschung gab ihm Kraft. Er schloß die Augen, verschloß sich vor der Angst, blockte sie ab und suchte in sich die Ruhe. Er lenkte seine Gedanken auf die Kraft in seiner Mitte. Ruhigen Geistes sperrte er Angst und Verwirrung aus und richtete seine Gedanken auf die Kraft dieses Friedens. Er würde sie nicht der Unterwelt überlassen.
Mit ruhiger Stimme sagte er ihren Namen. »Ich will dir helfen. Du bist nicht allein. Ich bin hier, bei dir. Laß mich dir helfen. Nimm meine Kraft.«
Er packte sie fest an den Schultern. Sie weinte und schluchzte. Er stellte sich vor, wie er ihr durch seine Hände, durch die Berührung, Kraft verlieh. Wie sich diese Berührung auf ihren Geist übertrug und er ihr seine ganze Kraft überließ, sie zurückriß aus der Finsternis, zum Licht- und Lebensfunken wurde, der sie zurückholte in diese Welt. Zu ihm.
»Kahlan. Ich bin doch da. Ich werde dich nicht verlassen. Du bist nicht allein. Ich bin dein Freund. Hab Vertrauen.« Er drückte ihre Schultern. »Komm zu mir zurück. Bitte.«
Er stellte sich das weißglühende Licht in seinem Kopf vor und hoffte, es könnte ihr helfen. Bitte, geliebte Geister, flehte er, laßt sie hineinsehen. Damit es ihr hilft. Gebt ihr meine Kraft.
»Richard?« Sie rief den Namen, als wüßte sie nicht, wo er war.
Er packte sie an den Schultern. »Hier bin ich. Ich werde dich nicht verlassen. Komm zurück zu mir.«
Sie begann wieder ruhig zu atmen. Ihre Augen nahmen sein Gesicht wieder wahr. Erleichtert entspannten sich ihre Züge, als sie ihn erkannte, und sie weinte einfach. Sie lehnte sich bei ihm an und umklammerte ihn wie einen Felsen in einem Sturzbach. Er drückte sie an sich, und sie konnte sich an seiner Schulter ausweinen, während er ihr beruhigend zuredete. Er hatte solche Angst gehabt, sie an die Unterwelt zu verlieren, daß auch er sie jetzt nicht loslassen wollte. Er zog die Decke wieder über sie und wickelte sie ein, so gut es ging. Es hatte ihn verstört, weil die Unterwelt sie so schnell zurückgefordert hatte. Er wollte nicht daran denken, was hätte geschehen können. Er wußte nicht, wie er sie zurückgeholt hatte, doch eins war klar: es war keinen Augenblick zu früh gewesen.
Das Feuer verlieh dem Inneren der Launenfichte einen warmen, roten Schein, und in der Stille erschien der Baum wieder als sicherer Zufluchtsort. Das täuschte. Er hielt sie fest, strich ihr übers Haar und wiegte sie lange Zeit. Die Art, wie sie sich an ihn klammerte, verriet ihm, wie lange Zeit sie niemand so gehalten und getröstet hatte.
Von Zauberern oder Magie verstand er wenig, doch hätte man Kahlan nicht ohne gewichtigen Grund durch die Grenze, die Unterwelt, geschickt. Er fragte sich, was so wichtig sein mochte.
Sie stieß sich von seiner Schulter ab und setzte sich verlegen auf. »Tut mir leid. Ich hätte dich nicht so berühren sollen. Ich war…«
»Schon gut, Kahlan. Eine Schulter zum Ausweinen ist die erste Pflicht eines Freundes.«
Sie nickte, ohne jedoch den Kopf zu heben. Richard spürte ihren Blick, als er die Suppe vom Feuer nahm, um sie ein wenig abkühlen zu lassen. Er legte den nächsten Scheit nach. Funken stoben mit dem Rauch in die Höhe.
»Wie machst du das?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Machen? Was?«
»Wie kannst du diese Fragen stellen, die meine Gedanken mit Bildern füllen und mich zwingen zu antworten, obwohl ich eigentlich gar nicht will?«
Er zuckte ein wenig unsicher mit den Achseln. »Das fragt mich Zedd auch immer. Wahrscheinlich wurde ich einfach damit geboren. Manchmal denke ich, es ist ein Fluch.« Er wandte den Blick vom Feuer ab und sah sie an. »Tut mir leid, Kahlan, daß ich dich gefragt habe, was du dort gesehen hast. Das war gedankenlos. Manchmal eilt die Neugier meinem Verstand davon. Tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun. Aber eigentlich hättest du doch nicht in die Unterwelt zurückgezogen werden dürfen, oder?«
»Nein, eigentlich nicht. Fast war es, als wäre ich wieder dort und hätte gesehen, wie jemand darauf wartete, mich zurückzuholen. Ich fürchte, ohne dich wäre ich dort verlorengegangen. Ich habe ein Licht in der Finsternis gesehen. Du hast irgend etwas getan und mich zurückgeholt.«
Nachdenklich nahm Richard den Löffel in die Hand. »Vielleicht war es nur das Gefühl, nicht allein zu sein.«
Kahlan zuckte wenig überzeugt mit den Achseln. »Vielleicht.«
»Ich habe nur einen Löffel. Wir müssen ihn uns teilen.« Er nahm einen Löffel Suppe und pustete darauf, bevor er probierte. »Kein Meisterwerk, aber besser, als in die hohle Hand gehustet.« Das brachte die beabsichtigte Wirkung. Sie lächelte. Er gab ihr den Löffel.
»Wenn ich dir helfen soll, am Leben zu bleiben oder dem nächsten Quadron zu entkommen, muß ich schon etwas genauer Bescheid wissen. Außerdem haben wir, glaube ich, nicht viel Zeit.«
Sie nickte. »Verstehe. In Ordnung.«
Er ließ sie etwas Suppe essen, bevor er fortfuhr. »Was geschah also, nachdem die Grenzen errichtet worden waren? Was wurde aus dem großen Zauberer?«
Sie nahm noch ein Stück Wurst, bevor sie ihm den Löffel reichte. »Bevor sie errichtet wurden, geschah noch etwas. Während der große Zauberer die Magie in Bann hielt, nahm Panis Rahl endgültig Rache. Er entsandte ein Quadron aus D'Hara … sie töteten die Frau des Zauberers und seine Tochter.«
Richard starrte sie an. »Und was tat der Zauberer mit Rahl?«
»Er hielt Rahls Magie zurück und verbannte ihn nach D'Hara, bis die Grenzen errichtet wurden. Dann, genau in diesem Augenblick, schickte er einen magischen Feuerball hindurch, der mit dem Tod in Berührung kam und dadurch die Kraft beider Welten in sich vereinte. Danach standen die Grenzen.«
Von dem magischen Feuerball hatte Richard noch nie gehört, aber eigentlich erklärte sich die Sache von selbst. »Und was geschah mit Panis Rahl?«
»Nun, die Grenzen standen, Genaues weiß also niemand. Aber ich denke nicht, daß irgend jemand mit Panis Rahl hätte tauschen wollen.«
Richard gab ihr den Löffel. Sie aß noch ein wenig, während er sich den gerechten Zorn des Magiers vorzustellen versuchte. Sie gab ihm den Löffel zurück und fuhr fort.
»Zuerst war alles wunderbar, aber dann begann der Rat der Midlands Maßnahmen zu ergreifen, die nach Ansicht des Zauberers verräterisch waren. Es hatte irgend etwas mit dem Zauber zu tun. Er kam dahinter, daß der Rat Vereinbarungen über die Kontrolle des Zaubers gebrochen hatte. Er teilte ihnen mit, ihre Gier und ihre Untaten würden zu größeren Schrecken führen als jenen, die gerade in den Kriegen niedergerungen worden waren. Sie glaubten natürlich, sie wüßten es besser als er, wie der Zauber gelenkt werden sollte. Ein Amt wurde geschaffen, das eigentlich nur ein Zauberer besetzen durfte. Er war außer sich. Er erklärte ihnen, nur ein Zauberer könne entscheiden, wer der Richtige für ein solches Amt sei, und deshalb müsse auch ein Zauberer nach dem Richtigen suchen. Der große Zauberer hatte andere Zauberer ausgebildet, doch in ihrer Gier schlugen sie sich auf die Seite des Rates. Er war sehr zornig. Er erklärte, seine Frau und seine Tochter seien umsonst gestorben. Als Strafe versprach der Zauberer ihnen die denkbar schlimmste Vergeltung. Dann überließ er sie den Folgen ihres Handelns.«
Richard mußte lächeln. Das hätte auch von Zedd stammen können.
»Er meinte, wenn sie so genau wüßten, wie alles zu erledigen sei, brauchten sie ihn wohl nicht. Er weigerte sich, ihnen weiter zu helfen, und verschwand. Als er ging, spannte er jedoch noch ein magisches Netz…«