»Was ist das, ein magisches Netz?«
»Das ist der Zauber, den ein Zauberer ausspricht. Man nennt ihn magisches Netz. Als er ging, spannte er ein solches Netz über jeden, und alle vergaßen seinen Namen, ja sogar sein Aussehen. Daher kennt ihn niemand mehr, und niemand weiß mehr, wo er ist.« Kahlan warf einen Ast ins Feuer. »Anfang letzten Winters entstand dann die Bewegung.«
Er setzte den Löffel Suppe wieder ab. »Welche Bewegung?«
»Die Darken-Rahl-Bewegung. Sie schien aus dem Nichts zu entspringen. Plötzlich riefen die Menschenmassen in den größeren Städten seinen Namen, nannten ihn ›Vater Rahl‹ und bezeichneten ihn als den größten Mann, der je gelebt hat. Das Seltsame ist, er ist der Sohn von Panis Rahl aus D'Hara, von jenseits der Grenze. Woher wußte also überhaupt jemand von ihm?« Sie ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken.
»Wie auch immer, anschließend drängten die Gars über die Grenze. Sie brachten eine Menge Menschen um, bevor die Leute begriffen, daß sie nachts zu Hause bleiben mußten.«
»Aber wie sind sie über die Grenze gekommen?«
»Die Grenze wurde schwächer, nur wußte das niemand. Zuerst an ihrem oberen Ende, so daß die Gars darüber hinwegfliegen konnten. Im Frühjahr verschwand sie dann ganz. Anschließend marschierte die Friedensarmee des Volkes, Darken Rahls Truppen, in die größeren Städte ein. Anstatt ihn zu bekämpfen, bewarfen ihn die Midlander mit Blumen, wohin er auch kam. Wer keine Blumen warf, wurde gehängt.«
Richard riß die Augen auf und starrte sie an. »Die Armee hat sie umgebracht?«
Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein. Die Blumenwerfer. Angeblich waren sie eine Bedrohung für den Frieden, also brachte man sie um. Die Friedensarmee des Volkes brauchte keinen Finger krumm zu machen. In der Bewegung hieß es daraufhin, das beweise Darken Rahls friedliche Absichten, schließlich hätte seine Armee die Abtrünnigen nicht getötet. Nach einer Weile schritt die Armee ein und unterband das Morden. Die Abtrünnigen wurden statt dessen in Schulen der Erleuchtung geschickt, wo sie von der Größe Vater Rahls erfahren sollten, und welch ein Mann des Friedens er sei.«
»Und? Haben sie auf diesen Schulen der Erleuchtung gelernt, wie groß Darken Rahl ist?«
»Niemand ist fanatischer als ein Konvertit. Die meisten sitzen den ganzen Tag herum und singen seinen Namen.«
»Die Midlands haben sich also nicht gewehrt?«
»Darken Rahl trat vor den Rat und bat ihn, sich seiner Friedensallianz anzuschließen. Wer es tat, wurde als Verfechter der Harmonie gefeiert. Wer es nicht tat, wurde als Verräter behandelt und von Darken Rahl höchstpersönlich auf der Stelle öffentlich hingerichtet.«
»Wie hat er…«
Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und schloß die Augen. »Darken Rahl trägt an seinem Gürtel ein gebogenes Messer. Es bereitet ihm großes Vergnügen, es zu benutzen. Bitte, Richard. Frag mich nicht, was er diesen Leuten angetan hat. Das hält mein Magen nicht aus.«
»Ich wollte eigentlich fragen, wie die Zauberer auf all das reagiert haben.«
»Ach so. Nun, es hat ihnen die Augen geöffnet.«
»Anschließend ächtete Rahl die Anwendung aller Magie und erklärte jeden zum Rebellen, der sich diesem Bann widersetzte. Du mußt wissen, in den Midlands ist für viele Magie ein Teil ihres Lebens. Genauso könnte man jemanden zum Kriminellen erklären, weil er zwei Arme und zwei Beine hat, und ihn zwingen, sie abzuschneiden. Dann ächtete er das Feuer.«
Er hob die Augen. »Das Feuer? Warum?«
»Darken Rahl erklärt seine Befehle nicht. Ebensowenig fürchtet er Zauberer. Er verfügt über mehr Macht als sein Vater jemals hatte, mehr als jeder Zauberer. Seine Anhänger führen alle möglichen Gründe an. Meist behaupten sie, man hätte das Feuer gegen seinen Vater benutzt, und dadurch sei es zu einem Zeichen der Respektlosigkeit gegenüber dem Hause Rahl geworden.«
»Deswegen wolltest du vor einem Feuer sitzen.«
Sie nickte. »Ein Feuer am falschen Ort in den Midlands, ohne Darken Rahls Einwilligung, ist eine Einladung an den Tod.« Sie stocherte mit einem Stock in der Erde. »Vielleicht auch in Westland. Offenbar will dein Bruder das Feuer in Kürze ächten. Vielleicht…«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Unsere Mutter ist bei einem Brand umgekommen.« Seine Stimme klang erregt, warnend. »Deswegen sorgt sich Michael wegen des Feuers. Das ist der einzige Grund. Außerdem hat er nie davon gesprochen, er wolle es ächten. Er will nur verhindern, daß andere wie sie verletzt werden. Es ist doch nicht verkehrt, wenn man niemanden verletzen will.«
Sie sah ihn von unten her an. »Es schien ihm nichts auszumachen, dich zu verletzen.«
Richards Ärger ließ nach. Er atmete tief durch. »Ich weiß, so sah es aus. Aber du verstehst ihn nicht. So ist er nun mal. Absichtlich würde er mich nie verletzen.« Richard zog die Knie vor die Brust und schlang die Arme darum. »Nach dem Tod unserer Mutter hat Michael immer mehr Zeit mit seinen Freunden verbracht. Er freundete sich mit jedem an, den er für wichtig hielt. Einige dieser Leute waren überheblich und arrogant. Vater mißfielen einige seiner Freunde, was er ihm auch sagte. Darüber gab es Streit.
Einmal kam Vater mit einer Vase nach Hause, auf deren Rand kleine Figuren zu tanzen schienen. Er war sehr stolz auf sie. Er sagte, sie sei alt und er könne eine Goldkrone für sie bekommen. Michael meinte, sogar noch mehr. Sie stritten sich, bis Vater Michael die Vase zum Verkaufen überließ. Michael kehrte zurück und warf vier Goldkronen auf den Tisch. Mein Vater starrte sie nur unglaublich lange an. Dann sagte er, wirklich vollkommen ruhig, die Vase sei keine vier Goldkronen wert, und er wolle wissen, was Michael den Leuten erzählt hätte. Michael meinte, er hätte ihnen erzählt, was sie hören wollten. Vater streckte die Hand aus, um die vier Goldkronen einzustecken, aber Michael hielt seine Hand auf die Münzen. Er nahm drei und sagte, für meinen Vater sei nur eine, denn mehr hätte er nicht erwartet. Dann fügte er hinzu: ›Das ist der Wert meiner Freunde, George.‹ Das war das erste Mal, daß Michael ihn ›George‹ nannte. Mein Vater gab ihm nie wieder etwas zum Verkaufen.
Und weißt du, was Michael mit dem Geld getan hat? Als Vater das nächste Mal auf Reisen ging, hat er damit den größten Teil der Familienschulden bezahlt. Für sich selbst hat er nichts gekauft.
Michael kann manchmal recht grob sein, wie zum Beispiel heute, als er allen von unserer Mutter erzählt und dabei auf mich gezeigt hat, aber … aber im Grunde seines Herzens will er nur das Beste für alle. Er möchte nicht, daß jemand durch Feuer verletzt wird. Das ist alles. Damit niemand das gleiche durchmachen muß wie wir. Er versucht nur zu tun, was allen am meisten nutzt.«
Kahlan hielt den Blick gesenkt. Sie stocherte mit dem Stock in der Erde herum, dann warf sie ihn ins Feuer. »Tut mir leid, Richard. Ich sollte nicht so mißtrauisch sein. Ich weiß, wie sehr es schmerzt, seine Mutter zu verlieren. Du hast sicher recht.« Endlich sah sie auf. »Vergibst du mir?«
Richard nickte und lächelte sie an. »Natürlich. Wenn ich das gleiche erlebt hätte wie du, würde ich wahrscheinlich auch immer das Schlimmste vermuten. Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren. Iß erst zu Ende.«
Er hätte gerne den Rest ihrer Geschichte gehört, wartete jedoch ab und sah ihr eine Weile beim Essen zu, bevor er fragte: »Die Streitkräfte D'Haras haben also die gesamten Midlands erobert?«
»Die Midlands sind groß, und die Friedensarmee des Volkes hält nur einige der größeren Städte besetzt. In vielen Teilen des Landes mißachten die Menschen den Bund. Rahl kümmert das eigentlich nicht. Er hält das für unbedeutend. Seine Aufmerksamkeit hat er auf etwas anderes gerichtet. Die Zauberer fanden heraus, sein eigentliches Ziel sei die Magie, vor der der große Zauberer den Rat gewarnt hatte, jene Magie also, die sie um ihrer eigenen Habgier willen mißbraucht hatten. Bekommt Rahl den Zauber, nach dem es ihn gelüstet, ist er Herrscher über alles und braucht niemanden mehr zu bekämpfen.