Kahlan rückte vom Irrlicht ab, bis sie mit dem Rücken gegen den Baumstamm stieß. »Nein … bitte … nein«, flehte sie, den Kopf schüttelnd. »Bitte mich nicht darum.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie legte ihre zitternden Finger an die Lippen und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken.
Shar schwebte vor. »Bitte, Mutter Konfessor. Das Alleinsein ist so schmerzlich. Es tut so weh. Ich gehe jetzt. Bitte. Gebraucht Eure Macht. Laßt mich in Liebe sterben. Berührt mich, und laßt mich in süßer Qual ertrinken. Ich habe mein Leben verloren, weil ich Euch geholfen habe. Sonst habe ich nichts von Euch verlangt. Bitte!«
Shars Licht wurde schwächer. Weinend hielt Kahlan ihre Linke über den Mund. Schließlich streckte sie ihre Rechte aus, bis sie das Irrlicht mit den Fingerspitzen berühren konnte.
Ringsum war nichts als Donner, ohne Hall. Die heftige Krafteinwirkung auf die Luft erschütterte den Baum und ließ eine Sturzflut toter Nadeln herabregnen. Einige davon gingen bei der Berührung mit dem Feuer in Flammen auf. Shars schwachsilberne Farbe verwandelte sich in ein rosiges Glimmen, das an Kraft gewann.
Shars Stimme klang schwach. »Danke, Kahlan. Leb wohl, meine Liebe.«
Der Funke aus Leben und Licht wurde schwächer und erlosch.
Richard wartete nach dem Donner ohne Hall eine Weile, bevor er zu ihr zurückkehrte. Kahlan hatte die Arme um die Beine geschlungen, das Kinn auf die Knie gelegt und starrte ins Feuer.
»Shar?« fragte er.
»Sie ist gegangen«, kam die Antwort mit entrückter Stimme.
Er nickte, nahm ihren Arm, geleitete sie zu dem Lager aus Heu und legte sie hin. Sie ließ es widerstandslos mit sich geschehen. Er deckte sie mit einer Decke zu und tat etwas von dem Heu darauf, um sie während der Nacht warm zu halten, dann legte er sich dazu und schmiegte sich an sie. Kahlan drehte sich auf die Seite, ihm abgewandt, und drückte ihren Rücken an ihn, wie sich ein Kind an seine Eltern kuschelt, wenn Gefahr droht. Er spürte es ebenfalls. Irgend etwas näherte sich ihnen. Mit tödlicher Absicht.
Sie schlief sofort ein. Eigentlich hätte er frieren müssen, tat es aber nicht. Seine Hand pochte. Ihm war warm. Richard lag da und dachte über den Donner ohne Hall nach. Er fragte sich, wie sie den großen Zauberer dazu bringen wollte, das zu tun, was sie wollte. Der Gedanke erschreckte ihn. Bevor er sich noch mehr Sorgen machen konnte, war auch er eingeschlafen.
6
Gegen Mittag des nächsten Tages wußte Richard, daß der Stich der Schlingpflanze Fieber hervorrufen würde. Er hatte keinen Appetit. Mal war ihm unerträglich heiß, und die Kleider klebten ihm schweißnaß auf der Haut, dann wieder schüttelte er sich vor Kälte. In seinem Kopf hämmerte der Schmerz, und ihm wurde übel. Es gab nichts, was er hätte tun können, außer Zedd aufzusuchen. Und da sie fast dort waren, beschloß er, Kahlan nichts zu erzählen. Träume hatten seinen Schlaf gestört, ob wegen des Fiebers oder der Dinge, die er erfahren hatte, wußte er nicht. Am meisten beunruhigte ihn, was Shar erzählt hatte: Finde die Antwort oder stirb.
Der Himmel war leicht bewölkt. Das kalte, graue Licht kündigte den Einbruch des Winters an. Dichtstehende, hochgewachsene Bäume hielten den Wind und die Kälte fern und verwandelten den Pfad in eine stille, nach Balsamtannen duftende Oase. Ein Schutz vor dem Hauch des Winters, der über ihren Köpfen hinwegzog.
Sie überquerten einen kleinen Bach in der Nähe eines Biberbaus und stießen auf ein Feld mit späten Wildblumen, deren gelbe und blaue Blüten den Boden einer spärlich bewaldeten Senke bedeckten. Kahlan bückte sich, um einige zu pflücken. Sie fand ein schaufeiförmiges Stück totes Holz und machte sich daran, die Blumen in der Vertiefung des Holzes zu arrangieren. Sie mußte hungrig sein, dachte Richard. In der Nähe stand ein Apfelbaum. Er füllte seinen Rucksack zur Hälfte, während sie sich ihrer Aufgabe widmete. Es war nie verkehrt, Zedd etwas zum Essen mitzubringen.
Richard war eher fertig als Kahlan. An einen Stamm gelehnt, wartete er und fragte sich, was sie tat. Als das Gesteck ihre Zufriedenheit fand, hob sie den Saum ihres Rockes, kniete an dem vom Biberdamm gesteuerten Bach nieder und schob das Stück Holz hinaus aufs Wasser. Sie setzte sich auf die Fersen, legte die gefalteten Hände in den Schoß und verfolgte eine Zeitlang, wie das kleine Blumenfloß auf das stille Wasser hinaustrieb. Als sie sich umdrehte und ihn am Stamm lehnen sah, stand sie auf und kam zu ihm.
»Eine Gabe für die Seelen unserer Mütter«, erklärte sie. »Um sie um Schutz und Hilfe bei der Suche nach dem Zauberer zu bitten.« Kahlan schaute ihm ins Gesicht. Sie wurde besorgt. »Was ist, Richard?«
Er hielt ihr einen Apfel hin. »Nichts. Hier, iß.«
Sofort hatte sie seine Hand zur Seite geschlagen und ihn mit der anderen an der Kehle gepackt. Zorn blitzte in ihren grünen Augen auf. »Warum hast du das getan?« wollte sie wissen.
Der Schock brachte seine Gedanken zum Rasen. Er erstarrte. Irgend etwas riet ihm, sich nicht zu bewegen. »Magst du keine Äpfel? Tut mir leid, ich werde etwas anderes zu essen suchen.«
Die Wut in ihren Augen ließ nach, verwandelte sich in Zweifel. »Wie hast du sie genannt?«
»Äpfel«, sagte er, immer noch, ohne sich zu bewegen. »Kennst du keine Äpfel? Sie schmecken gut, garantiert. Was dachtest du denn, was das ist?«
Sie lockerte ein wenig den Griff. »Du ißt diese … diese Äpfel?«
Richard zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ja. Oft.«
Aus Zorn wurde Verlegenheit. Sie ließ von seinem Hals ab und schlug die Hand vor den Mund. »Richard, es tut mir so leid. Ich wußte nicht, daß man diese Dinger essen kann. In den Midlands sind alle roten Früchte tödlich giftig. Ich dachte, du wolltest mich vergiften.«
Richard lachte, und die Anspannung löste sich. Kahlan lachte auch, obwohl sie beteuerte, es sei gar nicht komisch. Er nahm einen Bissen, um es ihr zu beweisen, und bot ihr einen anderen Apfel an. Diesmal nahm sie ihn, besah ihn jedoch lange, bevor sie hineinbiß.
»Hmm, schmeckt wirklich gut.« Kahlan machte ein besorgtes Gesicht und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Mit dir stimmt doch was nicht. Du glühst vor Fieber.«
»Ich weiß. Aber wir können nichts unternehmen, bis wir bei Zedd sind. Wir haben es fast geschafft.«
Ein kurzes Stück weiter den Pfad hinauf kam Zedds gedrungenes Haus in Sicht. Ein einzelnes Brett aus dem mit Gras bedeckten Dach diente seiner alten Katze als Rampe, die besser im Hinauf- als im Hinabklettern war. Innen vor den Fenstern hingen weiße Spitzengardinen, davor Blumenkästen. Die Blumen waren vertrocknet und verwelkt. Die Holzwände waren mit der Zeit trist und grau geworden, doch den Besucher empfing eine leuchtend blaue Tür. Abgesehen von der Tür machte das Haus den Eindruck, als wolle es in den Gräsern ringsum versinken, unbemerkt bleiben. Groß war das Haus nicht, aber über die ganze Breite der Vorderseite zog sich eine Veranda.
Zedds ›Denkstuhl‹ war leer. Zedd saß immer so lange in seinem Denkstuhl, bis er das Problem gelöst hatte, das ihn gerade beschäftigte. Einmal hatte er drei Tage hintereinander dort gesessen und dahinterzukommen versucht, warum die Menschen ständig über die Zahl der Sterne stritten. Ihm war das egal. Er fand das unwichtig und fragte sich nur, wieso die Menschen sich solange bei diesem Thema aufhielten. Schließlich war er aufgestanden und hatte verkündet, der Grund sei der, daß jeder zu diesem Punkt seiner tiefsten Überzeugung Ausdruck verleihen könne, ohne befürchten zu müssen, man könne ihn widerlegen. Denn niemand konnte die Antwort wissen. Diese Narren brauchten keinen Widerspruch zu fürchten, wenn sie sich als Experten ausgaben. Die Frage war geklärt, und Zedd war anschließend ins Haus gegangen und hatte glatt drei Stunden lang gespeist.
Richard rief nach ihm, bekam aber keine Antwort. Er lächelte Kahlan an. »Ich wette, er steckt hinten auf seinem Wolkenstein, wo er die neuesten Wolkenformationen studiert.«
»Wolkenstein?« fragte Kahlan.
»Dort steht er am liebsten, wenn er die Wolken beobachtet. Frag mich nicht, warum. Seit ich ihn kenne, läuft er los, sobald er eine interessante Wolke sieht, und beobachtet sie von diesem Felsen aus.« Richard war mit diesem Felsen aufgewachsen und fand das Verhalten nicht seltsam. Es gehörte einfach zu dem Alten dazu. Aber Zedd hatte auch seine Überspanntheiten.