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Richard hatte es bei seinem Leben geschworen. Tag auf Tag, Woche auf Woche, mit Unterbrechungen nur, wenn er auf Reisen war, hatte sein Vater ihn an jenen geheimen Ort tief in den Wäldern gebracht, wo er dasaß und zusah, wie Richard wieder und wieder das Buch las. Michael war gewöhnlich mit seinen Freunden unterwegs und zeigte kein Interesse, in die Wälder zu ziehen, selbst, wenn er zu Hause war. Und Richard besuchte Zedd auch dann häufig, wenn sein Vater zu Hause war, daher hatten beide keinen Anlaß, nach dem Grund seiner häufigen Ausflüge in die Wälder zu fragen.

Anschließend schrieb Richard auf, was er auswendig gelernt hatte und verglich es mit dem Buch. Sein Vater verbrannte dann jedesmal die Seiten und bat ihn, es zu wiederholen. Jeden Tag entschuldigte sich Richards Vater für die Bürde, die er ihm auferlegt hatte. Am Ende eines jeden Tages in den Wäldern bat er seinen Sohn um Vergebung.

Richard grollte nie, weil er das Buch auswendig lernen mußte. Er betrachtete es als eine Ehre, von seinem Vater ins Vertrauen gezogen zu werden. Hundertmal schrieb er das Buch von Anfang bis Ende fehlerlos auf, bevor er sicher war, kein einziges Wort je zu vergessen. Jedes ausgelassene Wort bedeutete Unheil.

Als sein Vater sicher sein konnte, daß er das Buch auswendig gelernt hatte, legten sie das Buch zurück in sein Versteck zwischen den Felsen und ließen es dort drei Jahre liegen. Nach dieser Zeit, Richard hatte die Fünfzehn überschritten, kehrten sie eines Herbstes zurück. Sein Vater meinte, wenn er das ganze Buch ohne einen einzigen Fehler niederschreiben könne, hätte er perfekt gelernt, und sie dürften es verbrennen. Richard schrieb ohne zu zögern von Anfang bis Ende. Es war perfekt. Zusammen machten sie ein Feuer, warfen mehr als genügend Holz hinein, bis die Hitze sie zurücktrieb. Sein Vater reichte ihm das Buch und meinte, wenn er sicher sei, könne er es ins Feuer werfen. Richard hielt das Buch der Gezählten Schatten in der Armbeuge und strich mit den Fingern über den ledernen Einband. Er hielt das Vertrauen seines Vaters in den Händen, das Vertrauen aller, und er spürte die Last der Verantwortung. Dann übergab er das Buch dem Feuer. Seit diesem Augenblick war er kein Kind mehr.

Die Flammen umzüngelten das Buch, liebkosten es zärtlich, verschlangen es. Farben und Formen stiegen spiralförmig auf, und ein dröhnender Schrei wurde ausgestoßen. Seltsame Lichtstrahlen schossen gen Himmel. Ein Wind ließ ihre Umhänge flattern, während das Feuer Blatter und Aste in sich hineinsog, hinein in die Flammen und die Hitze. Phantome erschienen, breiteten die Arme aus, als nährte sie die Glut; ihre Stimmen rasten mit dem Wind davon. Die beiden standen wie versteinert, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich von diesem Anblick abzuwenden. Glühende Hitze verwandelte sich in einen Wind, so kalt wie die tiefste Winternacht, ließ ihnen das Mark gefrieren, raubte ihnen den Atem. Dann war die Kalte verschwunden, und das Feuer verwandelte sich in weißes Licht, das alles mit seiner Helligkeit verschlang, so als stunden sie mitten in der Sonne. Und plötzlich war es vorbei. Stille trat ein. Das Feuer war aus. Rauchkringel stiegen langsam von dem geschwärzten Holz in die Herbstluft. Das Buch war verschwunden.

Richard wußte, was er gesehen hatte: Magie.

Richard spürte eine Hand auf seiner Schulter und öffnete die Augen. Es war Kahlan. Im Licht des Feuers, das durch die Tür hereinschien, sah er sie auf einem Stuhl sitzen, den sie dicht an sein Bett gezogen hatte. Zedds dicker, alter Kater lag schlafend zusammengerollt auf ihrem Schoß.

»Wo ist Zedd?« fragte er mit schläfrigen Augen. »Er ist unterwegs und sucht die Wurzel, die du brauchst.« Ihre Stimme klang zart und beruhigend. »Es ist schon seit Stunden dunkel, er meinte aber, wir sollten uns keine Sorgen machen. Du würdest immer wieder mal aufwachen, wärst aber bis zu seiner Rückkehr sicher.«

Zum ersten Mal bemerkte Richard, daß sie die schönste Frau war, der er je begegnet war. Ihr Haar fiel wirr um Gesicht und Schultern, und sehr gern hätte er es berührt. Aber er tat es nicht. Es genügte, ihre Hand auf seiner Schulter zu spüren, zu wissen, sie war da und er nicht allein.

»Wie fühlst du dich?« Ihre Stimme war so sanft, so zart. Er konnte sich nicht vorstellen, wieso Zedd Angst vor ihr gehabt hatte.

»Ich würde lieber gegen das nächste Quadron kämpfen, als mich noch mal mit dieser Schlingpflanze einzulassen.«

Sie schenkte ihm dieses Lächeln, das eine intime Verbundenheit mit ihm auszudrücken schien, und tupfte ihm die Stirn mit dem Lappen ab. Er hob die Hand und ergriff ihr Handgelenk. Sie hielt inne und sah ihm in die Augen.

»Kahlan, Zedd ist seit vielen Jahren mein Freund. Er ist für mich wie ein zweiter Vater. Versprich mir, daß du nichts tust, was ihn verletzen könnte. Das könnte ich nicht ertragen.«

Sie blickte ihm beruhigend in die Augen. »Ich mag ihn auch. Sehr sogar. Er ist ein guter Mensch, genau wie du gesagt hast. Ich habe nicht die Absicht, ihm weh zu tun. Ich brauche nur seine Hilfe bei der Suche nach dem Zauberer.«

Er packte ihr Handgelenk fester. »Versprich es mir.«

»Alles wird gut werden, Richard. Er wird uns helfen.«

Er mußte daran denken, wie sie seine Kehle gepackt und ihn angesehen hatte, als sie dachte, er wolle sie mit einem Apfel vergiften. »Versprich es mir.«

»Ich habe bereits mein Wort gegeben, anderen, von denen einige ihr Leben gelassen haben. Ich bin dem Leben anderer verpflichtet. Vieler anderer.«

»Versprich es mir.«

Mit der anderen Hand berührte sie seine Wange. »Tut mir leid, Richard, aber ich kann nicht.«

Er ließ ihr Handgelenk los, wandte sich ab und schloß die Augen. Sie nahm die Hand von seinem Gesicht. Er dachte an das Buch, an seine ganze Bedeutung, und merkte, wie egoistisch sein Wunsch war. Sollte er sie hereinlegen, um Zedd zu retten, nur damit er zusammen mit ihnen starb? Sollte er alle anderen zu Tod oder Sklaverei verdammen, nur damit sein Freund ein paar Monate länger lebte? Konnte er sogar sie, für nichts, dem Tod überlassen? Er schämte sich wegen seiner Dummheit. Er hatte kein Recht, ein solches Versprechen von ihr zu verlangen. Es wäre falsch, wenn sie sich darauf einließe. Glücklicherweise hatte sie ihm nichts vorgemacht. Zedd hatte sich zwar nach ihren Schwierigkeiten erkundigt, aber deshalb würde er ihr noch lange nicht gegen eine Gefahr von jenseits der Grenze helfen.

»Kahlan, das Fieber macht mich zum Narren. Verzeih mir bitte. Ich kenne niemanden, der so mutig wäre wie du. Ich weiß, du versuchst, uns alle zu retten. Zedd wird uns helfen, dafür werde ich sorgen. Versprich mir zu warten, bis es mir besser geht. Gib mir Gelegenheit, ihn zu überzeugen.«

Sie drückte seine Schulter. »Das Versprechen kann ich dir geben. Ich weiß, wieviel dir an deinem Freund liegt. Ich würde verzweifeln, wenn es anders wäre. Das macht dich nicht zum Narren. Ruh dich jetzt aus.«

Er versuchte, die Augen offen zu halten, denn sobald er sie schloß, begann sich alles zu drehen. Doch das Reden hatte an seiner Kraft gezehrt, und kurz darauf umschloß ihn wieder Dunkelheit. Wieder einmal wurden seine Gedanken ins Nichts gesogen. Gelegentlich näherte er sich der Schwelle des Wachseins, und durchlebte beunruhigende Träume; manchmal war die Dunkelheit so dicht, daß nicht einmal mehr Platz für Trugbilder war.

Der Kater erwachte und stellte die Ohren auf. Richard schlief weiter. Geräusche, die nur eine Katze hören konnte, ließen sie von Kahlans Schoß springen, zur Tür traben, wo sie sich abwartend auf die Hinterbeine setzte. Kahlan wartete ebenfalls, und da sich das Fell des Katers nicht sträubte, blieb sie bei Richard. Von draußen war eine dünne Stimme zu hören.

»Kater? Kater! Wo steckst du? Na, von mir aus bleib einfach draußen.« Knarrend öffnete sich die Tür. »Da steckst du.« Der Kater lief zur Tür hinaus. »Ganz wie du willst!« rief Zedd ihm nach. »Wie geht es Richard?« fragte er.

Kahlan blieb sitzen, als er den Raum betrat. »Er ist ein paarmal aufgewacht, aber jetzt schläft er. Hast du die Wurzel gefunden, die du brauchst?«