»Er ist zu jung.«
Sie schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. »Er wird keine Gelegenheit haben, älter zu werden.«
»Noch hat er meinen abschließenden Test nicht bestanden.«
»Darken Rahl macht Jagd auf Richard. Die Wolke, deren Schatten auf ihn fällt, wurde von Darken Rahl auf ihn angesetzt. Darken Rahl hat die Schlangenpflanze für ihn in die Vase gestellt, damit Richard nach ihr suchen und sie ihn stechen würde. Sie hat ihn nicht töten sollen; Rahl wollte ihn durch das Fieber einschläfern, bis er Gelegenheit hatte, ihn zu holen.« Ihre Gestalt schwebte näher, ihre Stimme wurde liebevoller. »In deinem Herzen hast du die Hoffnung gehegt, er würde sich als der Erwählte zeigen.«
»Wem sollte das nutzen?« Zedd schloß die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Darken Rahl verfügt über die drei Kästchen der Ordnung.«
»Nein«, sagte sein Vater. »Er hat nur zwei. Das dritte sucht er noch.«
Zedd riß die Augen auf, sein Kopf schnellte hoch. »Was! Er hat sie nicht alle?«
»Nein«, meinte seine Mutter. »Aber lange wird es nicht mehr dauern.«
»Und das Buch? Gewiß hat er doch das Buch der Gezählten Schatten?«
»Nein. Er sucht noch danach.«
Zedd legte seinen Finger ans Kinn und dachte nach. »Dann besteht eine Chance«, flüsterte er. »Welcher Narr würde die Kästchen der Ordnung ins Spiel bringen, bevor er nicht alle drei und auch das Buch besitzt?«
Seine Mutter blickte ihn eiskalt an. »Jemand, der sehr gefährlich ist. Er hat Zutritt zur Unterwelt.« Zedd erstarrte, der Atem stockte ihm in der Kehle. Seine Mutter schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren. »So konnte er die Grenze überwinden und das erste Kästchen zurückbekommen: durch seinen Zutritt zur Unterwelt. So konnte er auch die Auflösung der Grenze in Gang setzen: aus der Unterwelt. Er hat dort Macht über einige, und jedesmal wenn er kommt, werden es mehr. Sei gewarnt, solltest du dich entschließen zu helfen. Gehe nicht durch die Grenze, und schicke auch den Sucher nicht hindurch. Rahl erwartet genau das. Betrittst du sie, bist du in seiner Gewalt. Mutter Konfessor ist nur deswegen durchgekommen, weil er das nicht erwartet hatte. Denselben Fehler wird er nicht noch einmal machen.«
»Aber wie soll ich dann in die Midlands gelangen? Wenn ich nicht in die Midlands komme, kann ich nicht helfen.« Zedds Stimme war vor Enttäuschung gespannt.
»Es tut uns leid, doch das wissen wir nicht. Es wird wohl einen Weg geben, aber wir kennen ihn nicht. Deswegen mußt du einen Sucher ernennen. Wenn es der richtige ist, wird er einen Weg finden!« Ihre Gestalten begannen zu flimmern, zu verblassen.
»Wartet! Erst muß ich die Antwort auf meine Frage haben! Bitte verlaßt mich nicht!«
»Es tut uns leid, aber diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Wir werden hinter den Schleier zurückgerufen.«
»Warum ist Rahl hinter Richard her? So helft mir doch.«
Die Stimme seines Vaters war schwach und kam aus weiter Ferne. »Wir wissen es nicht. Du mußt selbst nach den Antworten suchen. Wir haben dich gut vorbereitet. Du bist begabter, als wir es je waren. Gebrauche, was du gelernt hast und was du fühlst. Wir lieben dich, Sohn. Bis dies erledigt ist, so oder so, werden wir nicht mehr zu dir kommen können. Nachdem die Ordnung ins Spiel gebracht wurde, könnte dies den Schleier zerreißen.«
Seine Mutter warf ihm einen Handkuß zu. Er tat es ihr nach, dann waren die beiden verschwunden.
Zeddicus Zu'l Zorander, der große ehrenvolle Zauberer, stand allein auf dem Zaubererfelsen, den sein Vater ihm vermacht hatte, starrte hinaus in die Nacht und hing den Gedanken eines Zauberers nach.
»Nichts ist jemals einfach«, flüsterte er.
8
Richard schreckte aus dem Schlaf hoch. Das warme Licht der Mittagssonne füllte das Zimmer, und der wundervoll scharfe Duft der Gewürzsuppe zog ihm in die Nase. Er befand sich in seinem Zimmer in Zedds Haus. Er betrachtete die vertrauten Astlöcher in den Wänden aus Holz, und die Gesichter, zu denen er sie immer in Gedanken machte, starrten zurück. Die Tür zum Vorderzimmer war geschlossen. Neben dem Bett wartete ein leerer Stuhl. Er setzte sich auf, schob die Decken von sich und merkte, daß er noch immer seine schmutzigen Kleider trug. Er tastete nach dem Zahn unter seinem Hemd und atmete erleichtert auf, als er ihn noch sicher dort fand. Ein kurzes Stöckchen hielt das Fenster ein paar Zentimeter weit geöffnet und ließ Luft und Kahlans erfrischendes Lachen herein. Bestimmt erzählte Zedd ihr irgendwelche Geschichten. Richard betrachtete seine linke Hand. Sie war verbunden, fühlte sich aber nicht mehr entzündet an, als er die Finger streckte. Auch sein Kopf schmerzte nicht mehr. Eigentlich fühlte er sich wunderbar. Hungrig, aber wunderbar. Er berichtigte sich: schmutzig, in dreckigen Kleidern, und hungrig. Trotzdem wunderbar.
In der Mitte des kleinen Zimmers stand eine Wanne mit Badewasser, Seife und sauberen Handtüchern. Saubere Waldkleider lagen ordentlich gefaltet auf dem Stuhl oder hingen über der Lehne. Das Badewasser sah einfach einladend aus. Er steckte die Hand hinein: Es war warm. Zedd mußte gewußt haben, wann er aufwachen würde. So gut wie er Zedd kannte, überraschte ihn das nicht.
Richard zog sich aus und stieg ins Wasser. Die Seife roch fast so gut wie die Suppe. Gewöhnlich blieb er gerne lange in der Wanne und ließ sich einweichen, doch dafür fühlte er sich jetzt zu wach, außerdem wollte er unbedingt zu den beiden nach draußen. Er wickelte die Hand aus dem Verband und war überrascht, wie weit die Wunde über Nacht verheilt war.
Als er aus dem Zimmer kam, saßen Kahlan und Zedd am Tisch und erwarteten ihn. Kahlans Kleid war frisch gewaschen, und auch sie sah frisch gebadet aus. Ihr Haar war sauber und glänzte im Sonnenlicht. Grüne Augen funkelten ihn an. Neben ihr auf dem Tisch wartete eine große Schale mit Suppe auf ihn, zusammen mit Käse und frischem Brot.
»Ich hätte nie gedacht, daß ich bis Mittag schlafe«, sagte er und schwang ein Bein über die Bank. Sie lachten. Richard sah sie fragend an.
Kahlans Gesicht wurde ernst. »Dies ist schon der zweite Mittag, Richard.«
»Stimmt«, fügte Zedd hinzu. »Den ersten hast du glatt verschlafen. Wie fühlst du dich? Wie geht es deiner Hand?«
»Gut. Danke, Zedd, für die Hilfe. Danke, euch beiden.« Er öffnete und schloß seine Faust, um ihnen die Besserung zu demonstrieren. »Die Hand fühlt sich viel besser an, nur juckt sie jetzt.«
»Meine Mutter meinte immer, wenn es juckt, dann heilt es.«
Richard grinste sie an. »Meine auch.« Er angelte sich mit seinem Löffel ein Stück Kartoffel und einen Pilz und kostete. »Genausogut wie meine«, meinte er ernst zu ihr.
Sie saß rittlings mit dem Gesicht zu ihm auf der Bank, den Ellenbogen auf den Tisch, und das Kinn auf die Hand gestützt. Sie lächelte ihn wissend an. »Zedd ist da anderer Meinung.«
Richard warf Zedd einen vorwurfsvollen Blick zu, der übertrieben in den Himmel blickte. »Ach, wirklich? Ich werde ihn daran erinnern, wenn er mich das nächste Mal bittet, sie für ihn zu kochen.«
»Um offen zu sein«, sagte sie leise, wenn auch nicht so leise, daß Zedd es nicht hören konnte, »nach dem, was ich gesehen habe, würde er Erde verspeisen, wenn man sie ihm vorsetzt.«
Richard lachte. »Wie ich sehe, hast du ihn schon gut kennengelernt.«
»Ich sag's dir, Richard«, meinte der alte Mann, der nicht die Absicht hatte, sich von den beiden auf den Arm nehmen zu lassen, und drohte mit seinem knochigen Zeigefinger, »bei ihr würde sogar das schmecken. Du tätest gut daran, Unterricht bei ihr zu nehmen.«
Richard brach ein Stück Brot ab und stippte es in die Suppe. Die Scherze sollten seine Anspannung lockern und den beiden die Zeit vertreiben, bis er fertig war. Kahlan hatte Richard versprochen, noch zu warten, bevor sie Zedd um Hilfe bat. Offenbar hatte sie Wort gehalten. Zedd spielte gerne den Unwissenden und wartete ab, bis jemand ihn zuerst fragte. So konnte er besser einschätzen, was man bereits wußte. Heute jedoch durfte Richard keines seiner Spielchen zulassen. Heute war alles anders.