»Kahlan, erzähl Richard, wie Darken Rahl Menschen befragt.« Seine Stimme klang leise, ruhig. Er sah sie nicht an, sondern blickte Richard immer noch in die Augen.
Ihre Stimme war kaum hörbar. »Zedd, bitte.«
»Sag es ihm.« Diesmal klang seine Stimme härter, nachdrücklicher. »Erzähl ihm, was er mit dem gekrümmten Messer macht, das er an seinem Gürtel trägt.«
Richard wandte sich von Zedd ab und blickte in Kahlans blasses Gesicht. Nach einer Weile streckte sie die Hand aus und blickte ihn aus traurigen, grünen Augen an. Sie wollte, daß er zu ihr kam. Einen Augenblick lang blieb er unentschlossen stehen, dann kam er und nahm ihre Hand. Sie zog ihn zu sich herab. Er setzte sich rittlings auf die Bank, sah sie an und wartete darauf, ob sie ihm erzählen würde, was es mit dem gekrümmten Messer auf sich hatte. Es machte ihm angst. Kahlan rückte näher, schob eine Strähne hinter ihr Ohr, blickte auf seine Rechte, die sie mit beiden Händen gefaßt hielt und strich ihm mit dem Daumen über den Handrücken. Ihre Finger lagen sanft, weich und warm auf seiner Hand. Die Winzigkeit ihrer Hände ließen seine peinlich groß erscheinen. Sie sprach ruhig, ohne aufzublicken.
»Darken Rahl praktiziert eine uralte Form der Magie, genannt Antropomanzie. Er prophezeit die Antworten auf Fragen durch die Untersuchung lebender menschlicher Innereien.«
Richard spürte, wie sein Zorn aufloderte.
»Die Anwendungsmöglichkeiten sind begrenzt. Er kann auf eine einzelne Frage bestenfalls ein Nein oder ein Ja und gelegentlich einen Namen erhalten. Nichtsdestotrotz benutzt er sie immer noch gerne. Tut mir leid, Richard. Bitte verzeih. Ich wollte dir das nicht erzählen.«
Erinnerungen an die Güte seines Vaters, sein Lachen, seine Liebe, seine Freundschaft, ihre gemeinsame Zeit mit dem Geheimen Buch und tausend andere flüchtige Erinnerungen zerrissen ihn mit peinvoller Qual. Diese Bilder und Geräusche verschmolzen in Richards Gedanken zu düsteren Schatten und hohlem Widerhall und erloschen dann ganz. An ihre Stelle traten Erinnerungen an die Blutflecken auf dem Fußboden, an die blassen Gesichter der Anwesenden, an die Bilder der Qual und des Entsetzens seines Vaters. Dinge, die Chase ihm erzählt hatte, blitzten bruchstückhaft in seinen Gedanken auf. Er versuchte nicht, sie zurückzudrängen. Statt dessen riß er sie hervor, gierte nach ihnen. Er badete in der Flut der Einzelheiten, genoß die quälende Pein. Aus einer Grube tief in seinem Innern flammte ein Schmerz auf. Achtlos herbeigerufen, wuchs er brüllend heran. In Gedanken fügte er die Schattengestalt von Darken Rahl hinzu, der mit rotblinkender Klinge in den bluttriefenden Händen über seinen Vater gebeugt stand. Er hielt das Bild vor sein inneres Auge, betrachtete es von allen Seiten, sog es mit seiner Seele auf. Jetzt war das Bild komplett. Jetzt wußte er, wie es gewesen war. Wie sein Vater umgekommen war. Bislang hatte er nichts weiter gesucht als — Antworten. Sein ganzes Leben lang war er nie über dieses schlichte Ziel hinausgelangt.
In einem einzigen, glühenden Augenblick hatte sich das verändert.
Die Pforte, die seinen Zorn aussperrte, und die Mauer aus Vernunft, hinter der seine Wut verschlossen war, verglühten in einem Moment brennenden Verlangens. Ein Leben geordneter Überlegungen verdampfte angesichts sengender Wut. Klarheit erstarrte in einem Kessel geschmolzener Notwendigkeit zu schmutziger Schlacke.
Richard griff nach dem Schwert der Wahrheit, schloß die Finger um die Scheide und umklammerte sie fester und fester, bis seine Knöchel weiß waren. Seine Kiefermuskeln spannten sich. Sein Atem ging schnell und scharf. Was sonst noch um ihn war, sah er nicht.
Die Hitze des Zorns stieg kochend aus dem Schwert, nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil der Sucher sie rief. Sie überfiel ihn wie eine Flutwelle, drang bis in die tiefsten Zellen und brannte sich in seinen siedenden Zorn. Seine Brust schwoll an. Gedanken, die er nie zugelassen hatte, wurden zum Antrieb seines einzigen Verlangens. Vorsicht und Folgen verschwanden angesichts seiner Gier nach Rache. Richard ließ seinem Zorn freien Lauf.
In diesem Augenblick war es sein einziges Bedürfnis, sein einziger Wunsch, Darken Rahl zu töten. Nichts sonst hatte Bedeutung.
Mit der anderen Hand packte er den Griff des Schwertes, um es herauszuziehen. Zedd ergriff seine Hand. Der Sucher fuhr auf, wütend über die Störung.
»Richard«, sagte Zedd sanft. »Beruhige dich.«
Der Sucher ließ die kräftigen Muskeln spielen und blickte seinem Gegenüber funkelnd in die ruhigen Augen. Ein Teil von ihm, tief in seinem Hinterkopf, warnte ihn, versuchte, die Kontrolle wiederzugewinnen. Er ignorierte die Warnung. Zähneknirschend beugte er sich über den Tisch zu dem Zauberer.
»Ich nehme die Rolle als Sucher an.«
»Richard«, wiederholte Zedd ruhig. »Es ist alles in Ordnung. Entspann dich. Setz dich hin.«
Die Welt flutete in seine Gedanken zurück. Er nahm seine Bereitschaft zu töten eine Spur zurück, nicht jedoch seinen Zorn. Nicht nur die Tür, sondern auch die Mauer, hinter der der Zorn versperrt gewesen war, gab es nicht mehr. Auch wenn die Welt ringsum zurückgekehrt war, jetzt sah er sie mit anderen Augen; Augen, die er immer schon gehabt, die zu gebrauchen er sich nie getraut hatte: die Augen eines Suchers.
Richard merkte, daß er aufgestanden war. Er konnte sich nicht daran erinnern. Er setzte sich neben Kahlan und nahm die Hände vom Schwert. Etwas in seinem Innern gewann die Beherrschung über seinen Zorn zurück. Es war aber nicht mehr wie vorher. Es schloß ihn nicht hinter einer Tür weg, sondern hielt ihn ohne Furcht zurück. Der Zorn wartete, bis er wieder gebraucht wurde.
Ein Teil seines alten Selbst drängte zurück in seine Gedanken, beruhigte ihn, hielt ihn zur Vernunft an. Er fühlte sich befreit, ohne Angst und Scham — zum ersten Mal. Er gestattete sich, sich hinzusetzen, sich zurückzulehnen und zu entspannen.
Er blickte in Zedds ruhiges, unbeeindrucktes Gesicht. Der alte Mann, dessen weißes Haar das kantige Gesicht einrahmte, beobachtete ihn, studierte ihn und musterte ihn mit der winzigen Andeutung eines Lächelns in den Winkeln seines dünnen Mundes.
»Meinen Glückwunsch«, sagte der Zauberer. »Du hast soeben die letzte Prüfung eines Suchers bestanden.«
Richard fuhr verwirrt zurück. »Was soll das heißen? Du hast mich doch schon zum Sucher ernannt.«
Zedd schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe es dir schon einmal gesagt. Hast du nicht zugehört? Ein Sucher ernennt sich selbst. Bevor du zum Sucher wurdest, mußtest du eine entscheidende Prüfung bestehen. Du mußtest mir beweisen, daß du in der Lage bist, deinen gesamten Verstand zu gebrauchen. Viele Jahre lang, Richard, hast du einen Teil davon unter Verschluß gehalten. Deinen Zorn. Ich mußte herausfinden, ob du in der Lage bist, ihn freizulassen. Ich habe dich wütend gesehen, aber du warst nicht in der Lage, dir deine Wut selber einzugestehen. Ein Sucher, der sich nicht traut, von seinem Zorn Gebrauch zu machen, wäre hoffnungslos schwach. Es ist die Kraft des Zorns, der den Unachtsamen die Kraft gibt, sich durchzusetzen. Ohne diesen Zorn hättest du das Schwert abgelehnt. Und ich hätte es zugelassen, denn dir hätte das Notwendige gefehlt. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Du bist nicht länger Gefangener deiner Ängste. Doch sei gewarnt. Wie wichtig es auch sein mag, seinen Zorn zu nutzen, es ist ebenso wichtig, ihn zu beherrschen. Diese Fähigkeit hast du immer besessen, also verliere sie jetzt nicht. Du solltest weise genug sein zu wissen, welchen Pfad du einschlägst. Seine Wut herauszulassen, ist manchmal ein noch schmerzlicherer Fehler, als sie zurückzuhalten.«
Richard nickte ernst. Er dachte daran, wie sich das Schwert angefühlt hatte, als er es voller Wut in den Händen hielt, wie er die Macht gespürt hatte, das befreiende Gefühl, dem urzeitlichen Drang aus seinem Innern und dem Schwert nachzugeben.
»Das Schwert verfügt über Zauberkraft«, sagte er vorsichtig. »Ich habe sie gespürt.«