Sie stieß kehlige, unverständliche Worte hervor und riss den Talisman empor.
Im gleichen Moment hüllte die dämonische Aura Tyrande wieder ein, doch sie spürte, wie Elunes Schutz zurückkehrte.
Bei der Flucht aus der Blase half ihr das natürlich nicht.
Lady Vashj erhob sich und sah ihre Widersacherin verbittert an. »Es wäre besser für dich gewesen, wenn du gestorben wärst. Du wirst niemals ihre Vertraute werden. Das bin ich – und ich werde es auch immer sein!«
»Ich will nicht die Vertraute der Königin werden.«
Doch das schien Vashj nicht zu verstehen. Sie blickte auf den Talisman und fauchte: »Ich dachte, das würde funktionieren, aber ich muss mir etwas anderes überlegen. Vielleicht einige geflüsterte Worte ins Ohr des Lichtes der Lichter, Worte darüber, dass man dir nicht vertrauen kann. Ja, das könnte funktionieren …«
Tyrande versuchte nicht mehr, die Zofe davon zu überzeugen, dass sie keine Dienerin Azsharas werden wollte. Vashj war offensichtlich nicht ganz bei Verstand und würde auf Vernunftsargumente nicht reagieren.
Vashj blickte hektisch zur Tür, als sie draußen Geräusche hörte. »Die Wachen! Sie werden gleich zurück sein. Ich habe sie abgelenkt.« Sie sah wieder zu ihrer Gefangenen und richtete den Talisman auf sie. »Alles muss so sein wie vorher.«
Erneut hoben sich Tyrandes Arme über ihren Kopf. Unsichtbare Fesseln legten sich um ihre Handgelenke und pressten ihre Beine zusammen.
»Ich wünschte, ich wüsste mehr über diesen Gegenstand«, stieß Vashj hervor. »Dann könnte ich dich bestimmt damit töten, aber ohne den richtigen Befehl …«
Die Geräusche kamen näher. Azsharas Dienerin verbarg den Talisman in ihren Gewändern und ging zur Tür. Dann warf sie einen letzten Blick zurück.
»Nie wirst du zu ihr gehören«, zischte sie. Dann verschwand sie im Gang.
Die Wachen kehrten nur Momente später zurück. Einer trat an das vergitterte Loch in der Tür und musterte Tyrande weitaus länger, als nötig gewesen wäre. Sein Gesichtsausdruck wirkte verstört, als habe er sie nicht dort erwartet. Vashj hatte ihren Plan wohl nicht allein ausgeführt.
Tyrande bedauerte die vergebene Chance. Sie hätte wissen müssen, dass man Vashj nicht trauen durfte. Elune hatte sie gelehrt, immer nach dem Guten in anderen zu suchen, aber wenn Tyrande vorsichtiger gewesen wäre, hätte sie die Zofe vielleicht zu überrumpeln vermocht. Dann wäre sie wenigstens keine Gefangene mehr gewesen, sondern hätte versuchen können, sich aus dem Palast zu schleichen.
»Mutter Mond, was soll ich tun?« Sie wusste, dass sich die Göttin nur in sehr begrenztem Maße einmischen konnte. Es war ein Wunder, dass Elune sie überhaupt beschützte.
Tyrande dachte an Malfurion. Der Gedanke an ihn tröstete sie, jagte ihr aber zugleich auch Angst ein. Er würde alles versuchen, um sie zu retten. Über die Gefahr, in die er sich selbst brachte, würde er nicht nachdenken. Sie wusste, dass Malfurion sich notfalls opfern würde, um ihr die Freiheit zu ermöglichen.
Tyrande Whisperwind erkannte mit wachsender Verzweiflung, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte.
Malfurion suchte lange nach einem friedlichen Ort, um mit Cenarius zu sprechen, fand aber nur ein kleines Waldstück. Mit übereinander geschlagenen Beinen setzte sich der Druide auf den Boden und betrachtete die bemitleidenswerten Pflanzen ringsum. Die Brennende Legion hatte diesen Ort zwar noch nicht erreicht, aber ihr Gestank dehnte sich schon so weit aus, dass er auch hier das Leben vergiftete. Die Bäume spürten bereits das Unheil, das sich auf sie zu bewegte und bereiteten sich langsam darauf vor. Die meisten Tiere waren schon geflohen. Jetzt regierte die Stille.
Malfurion versuchte all das zu ignorieren und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf den Halbgott. Er streckte seinen Geist nach Cenarius aus, rief ihn und stellte sich die Gottheit in seinem Geist vor.
Zu seiner Überraschung antwortete der Halbgott sofort. Ein Bild des Waldgotts erschien. Er war gewaltig, viel größer als Nachtelfen, Tauren, Furbolgs oder Dämonen. Auf den ersten Blick sah er Malfurion ein wenig ähnlich, denn sein Gesicht und sein Oberkörper erinnerten an einen Nachtelf, auch wenn er sehniger und gebräunter war. Doch damit endete die Übereinstimmung auch schon. Von der Hüfte abwärts hatte er den Körper eines mächtigen Hirsches. Vier kräftige Beine stützten seinen mehr als drei Meter hohen Leib. Sie verliehen ihm die Schnelligkeit des Windes und eine Wendigkeit, die jedes Tier übertraf.
Cenarius hatte goldfarbene Augen. Moosgrünes Haar fiel bis auf seine Schultern. Darin und in seinem Vollbart wuchsen Zweige und Blätter. Auf seinem Kopf – genau dort, wo auch Malfurions Wülste entstanden waren – trug der Herr des Waldes ein gewaltiges Geweih.
Ich weiß, weshalb du mich gerufen hast, sagte der Halbgott.
Kann ich irgendetwas gegen die Magie des schwarzen Drachen unternehmen?
Er ist listig, trotz seines Wahnsinns, antwortete Cenarius, ohne den Mund zu bewegen. Er war nur eine Vision, die dem Druiden die Konzentration erleichtern sollte, mehr nicht. Der wahre Herr des Waldes war meilenweit entfernt. Doch es gibt einige Dinge, die ich über Drachen weiß. Das vermutet er wahrscheinlich nicht.
Malfurion fragte Cenarius nicht, woher sein Wissen stammte. Er hatte gehört, dass der Halbgott wahrscheinlich ein Kind des grünen Drachens Ysera war, der Herrin der Träume. Ihr Clan bewohnte hauptsächlich den Smaragdtraum.
Es hätte den Nachtelf nicht überrascht, wenn Ysera ihrem Sohn einige streng gehütete Geheimnisse anvertraut hätte.
Es gibt unterschiedliche Wege im Smaragdgrünen Traum, Malfurion, viele, viele Ebenen. Die Herrin der Träume entdeckte sie durch ihre Erfahrung. Der Erdwächter weiß wahrscheinlich nichts davon. Wenn du seine Verteidigung umgehen und seiner Aufmerksamkeit entgehen willst, solltest du einen dieser Pfade benutzen.
Das war eine unerwartete Wendung. Malfurion spürte neue Hoffnung. Wenn ihm das gelang, konnte er vielleicht auf diese Weise in den Palast eindringen.
Doch er musste sich zuerst auf seine aktuelle Aufgabe konzentrieren. Sein Herz sehnte sich zwar danach, Tyrande zu retten, aber das Schicksal seines Volkes – und der Tauren, Irdenen und der anderen – war weitaus wichtiger. Auch sie hätte das so empfunden und gesagt.
Doch das minderte seine Schuldgefühle nicht.
Kann ich rasch lernen, wie das funktioniert?, fragte er den Halbgott.
Ja, natürlich, es ist nur eine Frage der Perspektive … sieh mal …
Er machte eine Geste und rund um die beiden entstand eine idyllische Landschaft. Sie war ohne Makel. Malfurion erkannte Hügel und Täler, die in der Welt der Sterblichen von der Brennenden Legion verwüstet worden war. Im Smaragdtraum war die Welt noch so wie zu Beginn der Schöpfung.
Der Druide sah sich um, aber er bemerkte nur Dinge, die ihm bereits vertraut waren.
Du siehst nur den Höhepunkt, aber selbst Perfektion kennt Unterschiede, enthält Verborgenes. Sieh …
Cenarius beugte sich nach unten. Seine riesige Hand berührte die jungfräuliche Welt. Der Herr der Waldes griff nach dem Boden … und drehte die gesamte Welt einfach um.
Sie verschwand, als er sie losließ. An ihrer Stelle erschien ein primitives Kalimdor, beinahe so wie zuvor, doch mit leichten, erkennbaren Veränderungen. Die Hügel waren an einigen Stellen nicht ganz so hoch, und ein Fluss, den Malfurion kannte, floss nicht durch die gleiche Gegend wie früher. Eine kleine Bergkette erhob sich dort, wo sich früher eine Ebene befunden hatte.
Vor der Schöpfung gab es das Stadium des Wachstums und des Ausprobierens, so wie hier.
Einerseits war dies der Smaragdtraum, andererseits aber auch wieder nicht. Der Druide erkannte sofort, dass dies ein eingeschränkter Ort war, ein Kalimdor, durch das er nicht zu jedem Ort in der sterblichen Welt reisen konnte.