Der Drache wusste, dass das stimmte. »Dann warte ich hier auf euch. Ruft mich, wenn ihr meine Hilfe benötigt.« Seine Reptilienaugen verengten sich. »Auch wenn ich mich ihm stellen muss.«
Korialstrasz’ Abwesenheit senkte die Stimmung der Gruppe. Die drei Reisenden bewegten sich vorsichtiger, beobachteten jede Kluft und jeden Schatten misstrauisch. Malfurion erkannte immer mehr Aspekte der Landschaft wieder, deshalb wussten sie, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Brox, der die Gruppe inzwischen anführte, starrte jeden Felsen an, als vermute er einen Hinterhalt.
Aus Tag wurde Nacht, und obwohl Malfurion jetzt besser sehen konnte, legten sie eine Rast ein. Der Druide wusste, dass das Nest ganz in der Nähe war, daher fiel ihm und den anderen der Schlaf schwer.
Der Orc übernahm die erste Wache. »Wir werden uns dieses Mal abwechseln«, erklärte Krasus ernst, »damit wir morgen alle ausgeruht sind.«
Der ergraute Orc stimmte zögernd zu, dann setzte er sich auf den Felsen. Sein scharfes Gehör nahm sogar den Atem seiner Begleiter wahr. Sie atmeten gleichmäßig, ein Zeichen, dass sie eingeschlafen waren. Er hörte auch andere Laute, doch sie waren seltener als an den meisten Orten, die er in seinem entbehrungsreichen Leben besucht hatte. Dies war wirklich ein leeres Land. Der Wind heulte, und hier und da rutschten kleine Steine von den Gebirgen herab. Aber abgesehen davon war alles still.
In dieser Stille erinnerte sich Brox an die letzten Tage seines ersten Kampfes gegen die Dämonen. Er dachte an seine Kameraden, die damals freudig der Schlacht entgegen blickten – und den Feinden, die sie erschlagen würden. Viele hatten den Tod erwartet, aber sie wollten ihm ehrenhaft und stolz begegnen.
Keiner von ihnen hatte geahnt, was tatsächlich geschehen würde.
Noch lange Zeit danach hatte Brox geglaubt, seine toten Kameraden würden ihn verfolgen. Jetzt wusste der Krieger jedoch, dass sie ihn nicht verdammten, sondern im Gegenteil ihm zur Seite standen und seinen Arm führten. Durch ihn hatten sie weiterleben können. Jeder tote Feind hatte zu ihrer Ehre beigetragen. Irgendwann würde auch Brox fallen, doch bis dahin kämpfte er an ihrer Stelle.
Dieses Wissen erfüllte ihn mit Stolz.
Brox hatte schon so oft Wache gehalten, dass er ein gutes Gespür für die verstreichende Zeit hatte. Ungefähr die Hälfte seiner Schicht war bereits vergangen. Kurz dachte er darüber nach, die anderen schlafen zu lassen, doch er hatte Krasus’ Warnung nicht vergessen.
Der Orc war zwar ein erfahrener Krieger, doch verglichen mit dem Magier war er nur ein Kind. Brox würde ihm gehorchen … zumindest dieses Mal.
Ein Geräusch, das nicht vom Wind stammte, erregte seine Aufmerksamkeit. Er konzentrierte sich darauf, und sein Gesichtsausdruck wurde hart, als er es erkannte. Es waren hohe, schnell sprechende Stimmen. Sie befanden sich weit entfernt, waren nur durch eine zufällige Brise zu ihm getragen worden. Der Orc erhob sich und versuchte herauszufinden, von wo genau die Stimmen kamen.
Schließlich entdeckte Brox einen schmalen Pfad, der rund hundert Schritte nördlich verlief. Die Stimmen kamen aus dieser Richtung. Mit der Lautlosigkeit eines geübten Jägers verließ der Orc seinen Posten. Noch gab es keinen Grund, die anderen zu wecken. Es war durchaus möglich, dass er gar keine Stimmen hörte, sondern nur den Wind, der durch die uralten Berge pfiff.
Als er sich dem Pfad näherte, verstummten die Laute. Der Orc hielt an und wartete. Für einen Moment wurde die Unterhaltung fortgesetzt. Brox begann zu ahnen, wem er zuhörte. Diese Vermutung erhöhte seine Vorsicht.
Der Orc versuchte die Sprecher zu zählen. Drei, maximal vier. Mehr konnte er nicht unterscheiden.
Er hörte andere Laute. Es wurde gegraben, doch es gab hier keine Zwerge.
Brox kroch der unsichtbaren Gruppe langsam und lautlos entgegen. Anscheinend erwarteten sie nicht, in diesem Gebiet auf Fremde zu treffen, das verschaffte ihm einen deutlichen Vorteil.
Ein schwaches Licht erhellte den Bereich vor ihm. Brox blickte um eine Biegung … und entdeckte die Goblins.
Verglichen mit einem Orc waren es winzige, dürre Wesen mit zu großen Köpfen. Abgesehen von ihren spitzen Zähnen und kurzen scharfen Klauen wirkten sie nicht sonderlich bedrohlich. Brox wusste jedoch, wie gefährlich Goblins sein konnten, vor allem, wenn sie in Gruppen auftraten. Sie waren verschlagen und schnell. Mit Leichtigkeit tricksten sie auch viele größere Gegner aus. Einem Goblin konnte man nur vertrauen, wenn er bereits tot am Boden lag.
Malfurion hatte von einer großen Anzahl Goblins gesprochen, die irgendetwas für den schwarzen Drachen herstellten. Sie waren offenbar maßgeblich an der Erschaffung der Dämonenseele beteiligt gewesen. Brox nahm an, dass diese Goblins hier zur gleichen Schmiede gehörten, aber was taten sie so weit draußen?
»Mehr, mehr«, murmelte einer. »Noch nicht genug für eine neue Platte.«
»Die Ader ist versiegt!«, warf ein anderer wütend ein. Man konnte die beiden kaum voneinander unterscheiden. Einem dritten sagte er: »Wir müssen eine neue finden.«
Das Grabgeräusch stammte aus einem kleinen Stollen, den man in eine Bergwand geschlagen hatte. Die Goblins betrieben auf diese Weise Bergbau. Brox beobachtete, wie ein viertes Wesen zur Gruppe trat. In einer Hand hielt der Goblin eine Öllampe. Er zog einen Sack hinter sich her, der fast so groß wie er selbst war. Goblins waren zwar klein, aber ungewöhnlich kräftig.
Im Gegensatz zu den anderen wirkte der Neuankömmling gut gelaunt. »Hab eine neue Ader gefunden. Mehr Eisen.«
Die anderen Goblins wirkten erleichtert. »Gut«, sagte der Erste. »Keine Zeit zum Jagen. Das müssen die anderen tun.«
Brox wäre am liebsten seinen Instinkten gefolgt und hätte sie angegriffen. Aber er wusste, dass Krasus das nicht gewollt hätte. Der Orc betrachtete die Goblins. Sie wirkten so, als seien sie noch eine Zeitlang beschäftigt. Er würde zu dem Magier zurückkehren und von seiner Entdeckung berichten. Krasus wusste bestimmt, was richtig war, ob sie die Goblins gefangen nehmen oder ihnen besser aus dem Weg gehen sollten.
Ein Schlag traf ihn schwer am Hinterkopf. Er ging in die Knie. Etwas landete auf seinem Rücken und drückte seine Kehle zu. Ein zweiter Schlag traf seinen Kopf.
»Eindringling! Hilfe, Eindringling!«
Die hohe Stimme schnitt durch die Watte in seinem Schädel. Ein Goblin hatte sich hinter ihm angeschlichen. Die Fäuste dieses Volkes waren klein, also war er vermutlich mit einem Hammer oder Stein bewaffnet.
Der Orc wollte sich aufrichten, aber der Goblin schlug weiter auf ihn ein. Blut lief über seine Stirn und tropfte auf seine Lippe. Der Geschmack seines eigenen Lebenssafts weckte den Krieger in ihm. Er rollte sich auf den Rücken.
Etwas quakte unter ihm, dann landete der Orc auf etwas Weichem. Die Schläge hörten endlich auf. Brox wälzte sich weiter herum, bis sich der Goblin unter ihm nicht mehr regte.
Dann stand der Krieger auf. Die Stimmen der anderen Goblins waren nahe heran gekommen. Ein Stein schlug heftig gegen seine Schulter. Brox hörte, wie Metall über Metall schabte und wusste, dass die Goblins Messer bei sich trugen.
Blind griff er nach seiner Axt, konnte sie jedoch nicht finden. Der Orc wollte sich das Blut aus den Augen wischen, aber eine kreischende Gestalt sprang gegen seine Brust. Der Goblin hielt sich mit einer Hand an ihm fest und versuchte ihm mit der anderen eine Messerklinge ins Auge zu jagen.
Brox war noch damit beschäftigt, ihn abzuwehren, als bereits ein zweiter Angreifer auf seiner Schulter landete. Eine Klinge schnitt schmerzhaft in sein Ohr. Brox riss die Kreatur von seiner Schulter und schleuderte sie so weit wie möglich von sich. Er hörte ihre Schreie, während er mit beiden Händen nach dem Goblin auf seiner Brust griff.
Im gleichen Moment schnappte jemand nach seinen Beinen. Brox hob den Fuß und trat kräftig zu. Zufrieden hörte er, wie Knochen unter seinem Tritt brachen. Der Druck auf sein linkes Bein verschwand. Er wiederholte seine Taktik, doch dieses Mal gelang es dem Goblin, der sein anderes Bein festhielt, sich rechtzeitig zur Seite zu drehen. Selbst dabei ließ er nicht los.